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Zeittöne Herbst/Winter 2020/2021 - Stiftung Liebenau

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Lebenserfahrung Ztext:

Lebenserfahrung Ztext: heike schiller um ersten Mal begegnet bin ich Inge Jens Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts in einem noch fast leeren Tübinger Hörsaal. Ihr Mann, Professor Walter Jens, war dort mit ihr verabredet, um im Rahmen des Studium Generale einen Vortrag zu hören. Seine Seminaristinnen, zu denen auch ich gehörte, beorderte er mit freundlicher Bestimmtheit ebenfalls dorthin. Er klappte einen dieser knarzenden Hörsaalsitze herunter, setzte sich, grüßte knapp, aber liebevoll seine Frau und ließ sich dazu nötigen, sich des Inhalts der gereichten Brotbüchse anzunehmen. Belustigt beobachteten wir diesen Vorgang und freuten uns, dass unser, ehrfurchtgebietender und in allen Fragen der Allgemeinen Rhetorik himmelweit überlegener Hochschullehrer auch ein ganz normaler Mensch war, der halt ein Vesperbrot und einen Apfel braucht nach einem langen Tag am Seminar. Inge Jens, die so gerne Ärztin geworden wäre, aber im Nachkriegsdeutschland keine Chance auf einen Studienplatz hatte, blieb für uns die weitgehend unbeachtete Frau an seiner Seite. Wir wussten wohl, dass beide in der Friedensbewegung engagiert und ab 1983 fast jedes Wochenende bei den legendären Sitzblockaden in Mutlangen gegen die Stationierung der Pershing II Raketen dabei waren und einige Vorstrafen erhielten, von denen Inge Jens heute sagt: »Das gehörte damals zum guten Ton«. Wer den Krieg erlebt habe, ergänzt sie »konnte eigentlich nicht anders als in den 50er Jahren gegen die Wiederbewaffnung auf die Straße zu gehen und in der Hochphase des Kalten Krieges alles dafür zu tun, damit dieser Wahnsinn gestoppt wird«. Was wir nicht wussten: Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist vermutlich bis heute eine der intimsten Kennerinnen des Werkes von Thomas Mann, insbesondere seiner Briefe und Tagebücher. Sie war längst eine geachtete Editorin, die sich zu dieser Zeit den Tagebüchern von Thomas Mann zwischen 1949 und 1955 widmete. Heute sagt sie dazu: »Ich bin nicht besessen von Thomas Mann. Ich lese ihn ganz gern und mag vor allem seine Tagebücher, weil mich das Zeitgeschichtliche daran interessiert.« Etwa ein Vierteljahrhun­ dert früher, 1959, als ihr Mann das Ansinnen des Verlegers Günther Neske aus Pfullingen ablehnte, den Briefwechsel zwischen dem Kölner Germanisten Ernst Bertram und Thomas Mann herauszugeben, war es für sie »das große Glück« einspringen zu dürfen und sich an ihrer ersten wissenschaftlichen Edition zu versuchen. »Mein Mann versprach Neske, ein Auge auf mich zu haben…«, erzählt sie und lacht so herzerfrischend, auch wenn es bitter ist, als sie ergänzt, so sei das damals eben gewesen in einer Zeit als Ehefrauen noch kein eigenes Konto hatten und Arbeitsverträge von den Ehemännern unterschrieben wurden. Das Werk gelang, der erste Baustein für ihre eigene Karriere war gelegt. Tatsächlich aus dem Schatten ihres Mannes treten konnte sie erst viele, viele Jahre später. Die zweite Begegnung mit Inge Jens datiert ins Jahr 2010. Eine Freundin lud zu einem Gespräch mit ihr ein. Inge Jens stellte dort ihre Lebenserinnerungen vor, die den Titel »Unvollständige Erinnerungen« tragen. Die damals 83jährige hinterließ bei allen Gästen ob ihrer freundlichen, starken, klugen, sehr hanseatischen Persönlichkeit einen bleibenden Eindruck. Wir durften sie in ihrer produktivsten Lebensphase kennenlernen. Zwischen 2003 und 2016 veröffentlichte sie acht Werke für die sie von der Kritik sehr gelobt wurde. In dieser Zeit erkrankte Walter Jens an Demenz und starb 2013. Sie selbst sagt über diese schwere Phase ihres Lebens: »Ich habe während der Krankheit meines Mannes die meisten meiner Bücher geschrieben. Das habe ich Margit Hespeler, einer großartigen Frau zu verdanken, die uns sehr unterstützte und mir viel Freiraum ermöglichte. Ohne sie hätte ich das nicht geschafft.« 2016 erschien ihr letztes Buch: »Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken«. Schonungslos, warm und reflektiert nimmt sie sich dem Thema Demenz an und verarbeitet auf diese Weise die letzten, schweren Jahre einer über 60jährigen Ehe. Oktober 2020. Ich darf Inge Jens persönlich besuchen. Gelesen hatte ich lange schon fast alle ihre Veröffentlichungen und war sehr gespannt. 8 zeittöne Lebenserfahrung zeittöne Lebenserfahrung 9

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