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WIR mittendrin - 2/2022

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2 2 | 2022 SCHWERPUNKT: SEXUALITÄT UND BEZIEHUNG Sexualität ist mehr als Sex Liebe, Lust und Leidenschaft kennen (fast) alle Menschen. Diese Gefühle gehören zum Leben dazu, das gilt selbstverständlich auch für Menschen mit Behinderungen. Allerdings zeigt sich, dass es gerade Menschen mit Lernschwierigkeiten manchmal schwer haben, für sich und mit anderen sexuelles Erleben zu genießen. Da ist zuerst der oft unerfüllte Wunsch nach Partnerschaft. Nicht nur fehlt es an Gelegenheiten jemanden kennenzulernen, auch sind die Vorstellungen von Beziehung zum Teil wenig realistisch. Wo es keine brauchbaren Modelle im sozialen Umfeld gibt, keine Erziehung auf künftige Beziehungen vorbereitet, dienen die Klischees der Vorabendserien, schlimmer noch, die zahlreichen, im Internet verfügbaren Pornovideos zur Orientierung. Beides hat mit der Realität wenig zu tun und stößt in der Umsetzung schnell an Grenzen. Verunsicherung, Enttäuschungen und Scheitern sind die Folge. Gerade Menschen mit kognitiven Einschränkungen begegnen vielen Hürden bei der Entwicklung ihrer sexuellen Identität. Oft mangelt es an unbeaufsichtigter Zeit für den Austausch und erstes Ausprobieren mit Gleichaltrigen. Fast immer fehlen Kenntnisse über den eigenen Körper, die Ermutigung, ihn zu erforschen und Hilfe bei der Einordnung des Erlebten. Die Sprachlosigkeit in der Familie wie auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe verhindert eine unbefangene Auseinandersetzung mit sexuellen Wünschen und Vorstellungen. Sie unterbindet gleichzeitig das Vermitteln von Regeln, die es für ein gutes Miteinander braucht. Die Sorge vor Schwangerschaften und der Wunsch, Betroffene vor sexueller Gewalt zu schützen, tun ein Übriges, das Thema Sexualität lieber unter Verschluss zu halten. Bei Erwachsenen, Filmtipp Der Fernsehfilm „Be my Baby“ erzählt die Geschichte der 18-jährigen Nicole, einem Mädchen mit Down-Syndrom, das auf der Suche nach Liebe ist. Mit ihrer Zärtlichkeit, Energie und Sturheit bringt sie ihr Umfeld in so manch schwierige Situation ... Regie: Christina Schiewe Cast: Carina Kühne u.a. zumal wenn Menschen schon Beziehungserfahrungen haben, wird dann allerdings stillschweigend davon ausgegangen, sie wüssten Bescheid. Kaum jemand ahnt, wie falsch diese Annahme häufig ist. Sexualität ist viel mehr als Sex. Wie nehme ich mich wahr im Umgang mit anderen? Wann und mit wem wünsche ich mir Nähe? Was empfinde ich als angenehm, erregend und lustvoll und wo sind meine Grenzen, die es zu schützen gilt? Das alles gehört dazu und je nach Alter und Lebensphase variieren die Antworten. Um mit sich selbst und seinen Bedürfnissen in Kontakt zu sein, Sexualität als Quelle von Lebensenergie und Lebensfreude zu entdecken, bedarf es einer körper- und sexualfreundlichen Kultur. Im Umfeld von Menschen mit Unterstützungsbedarf findet die sich aber leider selten. So kommt es, dass viele kaum wissen, welche Bedürfnisse sie wirklich haben, was ihnen guttut und was nicht. Dass es ein Recht gibt, Nein zu sagen und Sex ohne Partner, ohne Partnerin nicht immer nur Notlösung sein muss. Text: Ruth Hofmann, ehem. Fachdienst Liebenau Teilhabe Foto: zum goldenen lamm (aus dem Film „Be My Baby“) Menschen mit Behinderungen haben das Bedürfnis nach Sexualität – genauso wie alle anderen.

2 | 2022 3 SCHWERPUNKT: SEXUALITÄT UND BEZIEHUNG Kein Lebensbereich ist ausgenommen Gerlinde Kretschmann, die Frau des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Ein erfülltes Leben ist nur möglich, wenn man seine individuellen Bedürfnisse entfalten kann. In ausnahmslos allen Lebensbereichen. Das umfasst neben einem Zugang zum Arbeitsleben oder sportlichen Aktivitäten unter anderem auch den Bereich Sexualität und Partnerschaft. Auch Menschen mit Behinderungen müssen und wollen sich auf ihre eigene Weise mit ihrem Körper, ihren Gefühlen, ihrer sexuellen Orientierung auseinandersetzen. Das ist wichtig, weil Sexualität naturgemäß eine große Rolle bei der Identitätsbildung spielt. Inklusion ist ein fortlaufender Prozess, der einen Paradigmenwechsel erfordert. Ein Umdenken, ein Ermöglichen, ein Überwinden von vermeintlichen Tabus und Berührungsängsten. Das Zusammenleben in einer inklusiven Gesellschaft kann nur gelingen, wenn wir Menschen mit Behinderungen dazu befähigen, ihren Alltag so gut es geht selbstbestimmt meistern zu können. Text: Gerlinde Kretschmann Foto: Jana Höffner SCHWERPUNKT: SEXUALITÄT UND BEZIEHUNG Gleiches Recht für alle Menschen mit Behinderungen sind in der Regel – auch wenn sie erwachsen sind – auf Unterstützung angewiesen. Häufig werden die Dinge dann so erledigt, wie die Unterstützenden es für richtig halten. Das ist oft gut gemeint, nicht immer erwünscht und selten förderlich, wenn die, um die es geht, nicht gefragt werden. Assistenzbedarf und Selbstbestimmung scheinen nicht recht vereinbar. Auch kranke und alte Menschen machen zuweilen diese Erfahrung. Was im Allgemeinen gilt, gilt auch für den Bereich der Sexualität: Kaum irgendwo sonst erfahren Betroffene so viel Reglementierung und Kontrolle. In den meisten Fällen mögen mehr oder weniger berechtigte Sorgen dahinter stecken, vielleicht aber auch nur die im Umfeld herrschende Sexualmoral. Wer noch als Erwachsener in der Familie oder in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt, hat wenig Privatsphäre. Vieles, was üblicherweise hinter verschlossenen Türen geschieht, wird hier Piktogramme verdeutlichen verständlich die Themen Liebe, Sexualität und Beziehung: Gezeichnet hat die Symobole Annette Kitzinger (METACOM), die auch zu vielen anderen Lebensthemen laufend Piktogramme entwickelt. Gegenstand von Bewertung und Einflussnahme. Aber: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt (…)“ heißt es in Artikel 2 des Grundgesetzes. Das gilt auch für den Bereich der Sexualität und unabhängig davon, ob jemand selbstständig leben kann oder Assistenz benötigt. Menschen haben Anspruch darauf, ihre Wünsche, Interessen und Neigungen zu verfolgen, gelegentliches Scheitern inbegriffen. Sie haben das Recht auf Eigensinn, im besten Sinne des Wortes, auch wenn sie dadurch für andere eventuell unbequemer werden. Um nicht falsch verstanden zu werden, es geht nicht darum, allen Impulsen und Bedürfnissen freien Lauf zu lassen. Gesellschaftliches Leben braucht Regeln und auch Tabus. Sie sollten aber nicht für bestimmte Personen enger gesteckt sein als für andere. Text: Ruth Hofmann, ehem. Fachdienst Liebenau Teilhabe Piktogramme: METACOM, Symbole ©Annette Kitzinger

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