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WIR mittendrin - 2/2020

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6 2 | 2020 KOMMUNIKATION Mit Händen und ohne Füße reden Joachim Mosch unterhält sich per Gebärden und Tablet. Joachim Mosch ist 29 Jahre alt. Er wurde mit Down-Syndrom geboren und kann nicht sprechen. Zusammen mit 23 weiteren Personen mit geistigen Behinderungen lebt er in einem Haus der Zieglerschen am Rande der Ravensburger Innenstadt. Doch dass er mit Händen – statt mit Worten – sprechen muss, hindert Joachim in seinem Alltag kaum. Er geht selbstständig einkaufen und mit dem Bus zur Arbeit. Dienstags trifft man die Wohngruppe dann an ihrem Stammtisch in der Ravensbuger Räuberhöhle. Die Kellner können mittlerweile auch schon die wichtigsten Gebärden: Hallo, Spezi, belegte Seele und Co sind nämlich gar nicht so schwer. „Wir sprechen mit lautsprachunterstützenden Gebärden. Im Unterschied zur Deutschen Gebärdensprache werden also einfache und markante Gebärden in den gesprochenen Satz eingebaut. So können Menschen mit geistiger Behinderung besser verstehen“, erklärt Barbara Lichtner, Einrichtungsleitung der Ravensburger Wohngruppe. „Wir haben auch die Speisekarte der Räuberhöhle mit Gebärden dargestellt. Jeder Gast kann versuchen, ohne Worte zu bestellen.“ Denn auf Offenheit und Neugier gegenüber den Gebärden trifft Joachim oft bei Fremden. Aber kaum jemand kann ihm bisher auch mit Gebärden antworten. Das können Tablets mit der Gebärdensammlung „Schau doch meine Hände an“ ändern. Gemeinsam kann so das entsprechende Wort vorgelesen, als Gebärde oder als Symbol gezeigt werden. Joachim freut sich über die Möglichkeit: „So kann ich mich überall unterhalten.“ Text/Foto: Vanessa Lang, Pressestelle bei den Zieglerschen MITBESTIMMUNG Zusammen leben und arbeiten – ein „Puzzlespiel“ Gemeinsam mit den Mitarbeitern haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene wichtige Orientierungspunkte für ein gutes Miteinander zusammengetragen. Der Flyer enthält ausgehandelte Regeln oder gesetzlich vorgeschriebene Aussagen zum Kinder- und Jugendschutz für alle 13 Wohngemeinschaften des Bereichs Kinder, Jugend und junge Erwachsene der Stiftung Liebenau. Julia Mayr berichtet von der Arbeitsgruppe. Sie lebt in Die Arbeitsgruppe entwickelte gemeinsam Regeln fürs Zusammenleben. einem Jugendlichen und einem Mitarbeiter bearbeitet und daraus Textvorschläge gemacht. Dann konnten alle ihre Meinung dazu sagen und Änderungen wurden abgestimmt. Manchmal gab es viele Diskussionen wie zum Beispiel beim Thema Spiele und Filme ab 18 Jahren oder ohne Altersfreigabe: Obwohl auch junge Erwachsene in den Wohngemeinschaften leben, haben sich alle zum Schutz der Jüngeren darauf geeinigt, auf sie zu verzichten. einer Wohngemeinschaft der Stiftung Liebenau in Tettnang. Auch hier haben die gemeinsam beschlossenen Regeln Gültigkeit. Gabi Luhr und Stephan Becker kamen vor zwei Jahren auf uns zu und haben darum gebeten, aufzuschreiben, was an unserer bisherigen Hausordnung gut funktioniert und für alle verständlich ist. Darüber hinaus sollten Veränderungswünsche formuliert werden und der teilweise schwierige und lange Text verständlicher gemacht werden. Daraufhin haben wir uns alle Gedanken gemacht. Einzelne haben eigene Zettel geschrieben, wie zum Beispiel: „Es sollten nach 21 Uhr keine Musikboxen mehr laufen, weil es immer zu laut ist. Denjenigen, die sich nicht daranhalten, sollten sie auch mal abgenommen werden.“ Andere haben gemeinsam als Wohngemeinschaft ihre Wünsche aufgeschrieben. „Wir wünschen uns WLAN für alle. Ein zusätzlicher Internet-PC wäre schön. Oft ist die Musik abends vor der Cafeteria oder im Hausgang zu laut. Jede Gruppe braucht einen Vertreter für den Jugend- und Bewohnerrat. Alkohol sollte strenger kontrolliert werden. Ein Aufenthaltsraum mit Musik oder ein Freizeitcafé wäre schön, wie das Schülercafé in der Schule.“ Alle diese Ideen und Vorschläge wurden dann in der Arbeitsgruppe diskutiert. Ziel war es, zehn Regeln festzulegen und in leicht verständlicher Sprache aufzuschreiben. Ganz wichtig war für alle der respektvolle Umgang miteinander. Die gemeinsam festgelegten Punkte wurden in Zweiergruppen von je Ebenso auf Musik, bei der viele beleidigende Ausdrücke benutzt werden. Jeder Punkt wurde dann zu einem Puzzleteil. Zusammengesetzt ergeben sie die neuen Regeln für ein gutes Miteinander. Wegen der Coronakrise gibt es mehrere kleinere Treffen, bei denen alle Regeln von der Arbeitsgruppe vorgestellt werden. Danach bekommen die Wohngemeinschaften die frisch gedruckten Flyer und Plakate ausgehändigt. Foto: Tengiz Kalichava

2 | 2020 7 Erfahrungen mit Gewalt Manfred Leuschner (Name geändert) schildert Ruth Hofmann seine Erfahrungen mit Gewalt in diversen Einrichtungen. Herr Leuschner, Sie sind heute 69 Jahre alt und wohnen in der Stiftung Liebenau in Rosenharz. Schon als Kleinkind sind Sie ins Heim gekommen, was haben Sie erlebt? Ich bekam Schläge. Von den Schwestern in Ingerkingen. Auch andere Kinder haben mich geschlagen. Einer, Anton hat er geheißen, der hat mir die Gurgel zugedrückt, damit ich nicht schreien kann. Dann bin ich nach Weißenau gekommen, weil ich nervenkrank war. Eine Schwester hat mich in der Badewanne unter Wasser gedrückt, weil ich ‚gebubelet‘ habe. Ich hatte da eine Zelle, kein Zimmer, kein normales Bett. Die Tür war abgeschlossen. Da habe ich auch Theater gespielt, eine Weihnachtsgeschichte, das war schön. AUFARBEITUNG Ein Stück Würde zurückbekommen Die „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ richtet sich seit 2017 an Menschen, die zwischen 1945 und 1975 als Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie gelebt haben, und in der Zeit Unrecht in Form von Gewalt, Stigmatisierung, Missbrauch und Zwangsunterbringung erfahren haben. Eine Ausgleichszahlung soll er- durchgeführten Studie zusamfahrenes Unrecht anerkennen men. Diese Recherche und der und das heutige Leben der Be- persönliche Kontakt zu den Betroffenen leichter machen. Die troffenen bilden die Grundlage bundesweite Stiftung Anerken- für ein Gutachten. Hierfür komnung und Hilfe ist für Baden- mt die zuständige Sachbearbei- Württemberg beim Sozialverterin von der Stiftung Anerkenband VdK in Stuttgart. Bis Ende nung und Hilfe in die jeweilige Dezember 2020 können Anträge Einrichtung. von betroffenen Personen selbst Der finanzielle Ausgleich kann oder der gesetzlichen Betreu- erfahrenes Leid und Unrecht ungsperson gestellt werden. nicht ungeschehen machen. Die Im Auftrag der Stiftung Lieben- Auseinandersetzung mit dem au wurden die gesetzlichen Be- Thema und die Anerkennung treuer angeschrieben und über dessen, was geschehen ist, gibt die Stiftung Anerkennung und den Betroffenen ein Stück Wür- Hilfe informiert. Für Personen, de zurück, die man ihnen ge- die nicht selbst über ihre frühenommen hat. ren Erfahrungen erzählen kön- Die Antragsstellung ist bis Ende nen oder für die die Erinnerun- Dezember 2020 (vorbehaltlich gen zu belastend sind, habe ich bis 30.06.2021) bei der Stiftung in der Sache recherchiert: in al- Anerkennung und Hilfe möglich. ten Unterlagen, Berichten und Kontakt: www.stiftung- dem Buch „Das Schweigen daanerkennung-und hilfe.de hinter“. Dieses Buch fasst Forschungsergebnisse einer im Text: Gerlinde Walka, Heil- Auftrag der Stiftung Liebenau pädagogin, Stiftung Liebenau Wie ging es dann für Sie weiter? Ich bin zu meiner Mutter nach Göppingen gekommen. Aber nur für einen Tag. Ich habe geschrien: ‚Ich will bei dir bleiben.‘ Aber das ist nicht gegangen. Ich kam in ein Kinderheim bei Crailsheim. Das war so ein nettes Kinderheim. Die Nonnen waren freundlich. Dort habe ich auch Besuch von meinen Eltern bekommen. Von da bin ich nach Ellwangen gekommen, auch ein Kinderheim. Die Nonnen waren streng. Ich habe oft Schläge bekommen. Weil ich meine Hosen vollmachte, musste ich die vollen Unterhosen von allen waschen. Wie alt waren Sie dann, als Sie zur Stiftung Liebenau kamen? Da war ich zehn. Ich war in der Schule, von der ersten bis zur fünften Klasse. Wir haben da auch Theater gespielt, ich war das ‚Schwäble‘ … (rezitiert einige Sätze der Rolle von damals). Einmal durfte ich mir was wünschen. Ich wollte nach Ravensburg. Beim Zengerle habe ich gesehen, wie Kerzen gemacht werden. Ein Pfleger, der war schlimm. Ich habe geraucht, und er hat mir in den Magen geschlagen. Dabei hat er selber geraucht. Ich habe starke Mittel bekommen, die haben mich müde gemacht. Ich habe sie weggeschmissen oder in der Backe behalten. Da hat er mich am Bett festgebunden. Ich habe ihn bei Dr. Ehrmann (langjähriger Arzt der Stiftung Liebenau; Anm. d. Red.) angezeigt und der hat mir ge- holfen. Ich bin in eine andere Gruppe gekommen. Da war es schön. War Liebenau Ihre letzte Station? Für eineinhalb Jahre war ich noch in Bad Schussenried. Da habe ich Elektroschocks gekriegt. Und von da kam ich auch noch ins Landeskrankenhaus Christophsbad in Göppingen. Da waren die Pfleger freundlich, sehr freundlich. Und meine Mutter hat mich besucht. Und dann bin ich wieder zurück in die Stiftung. Herr Leuschner, es gab sehr schwere Zeiten in Ihrem Leben. Oft denke ich nicht mehr dran. Ich wohne jetzt in einem schönen Haus und es geht mir gut. Als Anerkennung für das Unrecht, das Sie erleiden mussten, bekamen Sie mit Hilfe der Stiftung Liebenau 14.000 Euro. Was werden Sie mit dem Geld machen? Einen Fernseher habe ich mir schon gekauft, einen ganz großen. Und einen Fernsehsessel möchte ich noch. Dann will ich eine Woche zu „Hand in Hand“ (Ferienhaus für Menschen mit Behinderungen; Anm. d. Red.). Da machen sie auch Ausflüge mit mir. Zuletzt möchte ich eine Beerdigung in einem Sarg. Das kostet auch Geld. Ich will nicht verbrannt werden. Auf dem Grab soll ein Bild von mir sein.

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