Mediathek der Stiftung Liebenau
Aufrufe
vor 3 Jahren

WIR mittendrin - 2/2020

  • Text
  • Lebt
  • Woche
  • Regeln
  • Friedrich
  • Frau
  • Gemeinsam
  • Liebenau
  • Behinderungen
  • Stiftung
  • Menschen

2 2 |

2 2 | 2020 AUTISMUS „Für mich: alles stinknormal“ Mein Name ist Elena. Ich bin 27 Jahre alt und wohne in Ravensburg. Ich bin eine Asperger- Autistin. Mein Alltag ist wie folgt: Ich stehe meistens zwischen 14 und 17 Uhr auf. Es kommt auf die Jahreszeit und die Helligkeit an. Dann melde ich mich bei meiner Mutter, am Wochenende melde ich mich bei meinem Papa, da ist er nicht beim Arbeiten. Danach rufe ich meine Großeltern das erste Mal an. Dann gehe ich an den PC bis Mama mir hilft mein „Frühstück-Mittag-Abendessen“ zu machen. Anschließend wieder an meinen PC, dort mache ich alles was meinen Austausch mit der Außenwelt betrifft. Dann rufe ich nochmals Opa und Oma an, um ihnen gute Nacht zu sagen. Ich selbst arbeite noch weiter bis circa 4 Uhr nachts, und gehe dann erst ins Bett. Die Alltagsprobleme Ich bin orientierungslos in Raum und Zeit, meine Wahrnehmung funktioniert anders als bei den meisten Menschen. Ich bin ge- sichtsblind. Das heißt ich kann keine Gesichter von Menschen unterscheiden. Für mich sehen alle aus wie graue Klöpse. Berührungen sind für mich unerträglich schmerzhaft (außer von meinen Eltern). Außerdem sehr problematisch ist für mich helles Licht und Wasser. Meine Sinne sind viel, viel emp- findlicher, als bei den meisten Menschen: Gerüche, Geräusche, detailliertes Sehen, Tasten und „jeden Krümel“ spü- re ich intensiver. Ich denke eher in Bildern als in Worten. Ich brauche einen geregelten Tagesablauf, alles muss nach Plan gehen, Änderungen bringen mich durcheinander. Ich benötige viel Schlaf – bis zu zehn Stunden. Ich liebe Tiere, vor allem mein Kaninchen Leo. Verbindung: Internet Aus dem Haus gehen kann ich nur mit Begleitung. Einmal in der Woche kommt jemand vom Pflegedienst und geht mit mir zum Einkaufen oder andere Besorgungen machen. Das muss ich auf Anordnung meiner Eltern seit drei Jahren üben, damit ich im Rahmen meiner Möglichkeiten selbstständig werden kann. Vor Corona bin ich mitgegangen, zurzeit gehe ich gar nicht mehr raus, da die Masken mir zusätzlich Probleme und Angst machen. Im Laden erkenne ich nicht einmal meine Mutter. Meine Verbindung zur Außenwelt ist das Internet und meine Familie inklusive meiner Pateneltern. Ich telefoniere viel. Mein Neurologe beziehungsweise Psychiater ist super. Er hilft mir viel. Er Elena nennt sich Asperger- Autistin: Das Internet ist für sie eine wichtige Verbingung zur Außenwelt. ist für mich eine große Unterstützung. Wie eine Flut Wenn die Welt mich überflutet, zum Beispiel durch laute Geräusche (Feuerwerksraketen, laute Radios oder Gebrüll) und ich nicht genug geschlafen habe, dann kann es sein, dass ich einen Overload bekomme. Ich habe dann entsetzliche Kopfschmerzen (schlimmer als Migräne). In den meisten Fällen sind die Schmerzen so intensiv, dass nach dem Anfall für drei bis fünf Tage meine Stimme und die Motorik fast weg sind. Dann muss ich mit meiner Mama mit Händen und Zetteln kommunizieren und sie muss mir beim Essen und Trinken helfen. Ich habe dann null Kraft. Nach ein paar Tagen beginne ich zu husten, wir sagen dann immer „das Gehirn hustet sich frei“. Dann kommen die Funktionen zurück. Meine Mutter ist meine Übersetzerin von der Welt da draußen zu meiner Welt. Wir üben immer wieder: „Wie schaut der und der, was meint der und der...?” Leider werden durch Overloads diese Übungen wieder gelöscht und wir fangen wieder bei null an. Durch diese Behinderungen kann ich nicht an der Arbeitswelt teilhaben und bin zu Hause beziehungsweise werde zu Hause versorgt. Die Schule war für mich unerträglich, wegen den vielen Schülern und weil ich mich gar nicht konzentrieren konnte. Alles hat mich abgelenkt. Eine Ausbildung konnte ich auch nicht machen. Wobei ich nicht dümmer bin als andere. Mein IQ liegt in der Theorie bei 130, das ist hochbegabt, in der Praxis hapert es aber stark. Infos zu Asperger bei Mädchen Im September 2015 war mein großer Bruder in Nepal, um nach dem großen Erdbeben zu helfen. Damit er nichts von zu Hause verpasst (vor allem nicht von mir), habe ich kleine Videos auf Facebook veröffentlicht. Das hat mich erfüllt. Damals habe ich auch Infos im Netz über As- perger bei Mädchen gesucht, aber nur Infos für Jungs gefunden. Deshalb habe ich beschlossen selbst klei- ne Videos zu drehen. Diese veröffentliche ich bis heute auf youtube (Ellabell la Flor). Gerne beantworte ich auch Fra- gen. Und wenn ihr mich näher kennen lernen wollt, gibt es jede Woche zwei Videos von mir, da rede ich über alles was mich beschäftigt oder was sich bei mir im Leben so tut. YouTube: Ellabell la Flor Text/Fotos: Elena Riedmayer

2 | 2020 3 Friedrich Jaenicke ist heute 15 Jahre alt. Dinge, die für viele selbstverständlich sind, kann er nicht erlernen. LEBEN Wohlüberlegter Schritt Öffentlichkeit: Ja oder Nein? Diese Frage stellten sich die Eltern von Friedrich. Soll man Friedrich oder uns Eltern bedauern, oder Mitleid empfinden? Oder geht es darum welche Erkenntnisse für das eigene Leben sich aus dem Umgang mit Menschen wie ihm ergeben? Friedrich ist ein Mensch, von dem man viel lernen kann, wenn man es nur zulässt. Menschen wie er werden viel zu oft wie medizinische Probleme und nicht wie wertvolle Mitglieder der Gesellschaft gesehen – wenn sie überhaupt gesehen werden. Mit meiner Fotoserie hoffe ich, zeigen zu können, wie viele liebenswerten Facetten Friedrich und Menschen wie er haben. Meine Frau und ich waren sehr vorsichtig und haben lange überlegt ob wir diesen Schritt in die Öffentlichkeit wagen sollten. Keinesfalls wollten wir ein weiteres Rührstück liefern, was bestenfalls Voyeurismus bedient und vielleicht schlimmer noch unsere Familie eventuell sogar gefährdet. Außerdem konnten wir Friedrich nicht um sein Einverständnis bitten. Aber je mehr Jahre vergingen, desto deutlicher wuchs in uns das Gefühl der Isolation, da selbst gute Freunde, aus Mangel an Berührungspunkten mit behinderten Menschen, nicht verstehen konnten, warum wir Friedrich nicht einfach in eine Einrichtung geben und ein vermeintlich einfacheres Leben führten. Es war nicht einfach die schönen, ja sogar bereichernden Aspekte unseres Lebens mit Friedrich, neben den sorgenvollen Momenten, zu zeigen und dabei weder sentimental noch verklärend zu wirken. Deshalb hat es uns sehr gefreut von so vielen Lesern zu hören, die scheinbar verstanden haben, worum es uns geht: Dass jedes Leben es wert ist, gelebt zu werden und die Frage nicht ist, welche Optionen das Schicksal für einen bereit hält, sondern ob man fähig ist, Liebe zu schenken und zu empfangen. Eine von zwei Erkenntnissen, die mir später, während des Schreibens an meinem Buch kam, war, dass Glück dort entsteht, wo Liebe ist. Die andere ist, dass anderen zu helfen, erfüllend ist und vielleicht eine der zentralen Aufgaben, die das Leben an uns stellt. Buchtipp: Wer bist du? Unser Leben mit Friedrich; Florian Jaenicke, Aufbau Verlag; ISDN: 978-3-351-03768-0 Text und Fotos: Florian Jaenicke

Hier finden Sie Impulse für den Alltag

Anstifter