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wir mittendrin - 2 / 2019

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Die Zeitschrift von Menschen mit und ohne Behinderungen

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2 2 | 2019 LEBEN Tettnang – wir kommen! Junge Frauen ziehen im kommenden Jahr von einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen der Stiftung Liebenau mitten in die Stadt Tettnang. Das ist aufregend. Ich heiße Julia und bin 21 Jahre alt. Ich wohne schon seit sechs Jahren in einer Wohngruppe für Mädchen und junge Frauen in Hegenberg. Wir wurden im Frühjahr von unserer Erzieherin gefragt, ob wir uns vorstellen könnten nach Tettnang umzuziehen. Dort wird gerade das neue Wohngebiet St. Anna- Quartier gebaut. Und zwei große Wohnungen und zwei Apartments können von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Hegenberg bezogen werden. Der Umzug soll Anfang 2020 stattfinden. Wir planen auch schon, wer welches Zimmer bekommt. Eine Freundin und ich Julia Mayr (2.v.l.) und ihre jungen Mitbewohnerinnen planen den Umzug. beziehen gemeinsam ein Apartment. Wir überlegen schon, wo wir unsere Betten und die Möbel hinstellen. Wir bekommen dann auch einen eigenen Fernsehanschluss und können anschauen was wir zwei mögen. Das ist alles ganz schön spannend. Es wird sich Einiges verändern. Wir haben dann mit dem Bus längere Wege. Denn wir alle wollen weiterhin in Liebenau oder Hegenberg unsere Schule oder Ausbildung besuchen. Ich selbst mache meine Ausbildung im Berufsbildungswerk in Ravensburg und arbeite in einem Lebensmittelgeschäft. Das Einkaufen in Tettnang wird dafür einfacher, denn ein Supermarkt liegt direkt vor der Haustür. In Tettnang gibt es auch eine sehr leckere Eisdiele: Das Eis schmeckt wie selbst gemacht. Natürlich haben wir auch Wünsche: Zum Beispiel, dass alles reibungslos geht und es keine Streitereien gibt. Wir haben auch Bedenken, ob die neuen Nachbarn unsere lebendige Wohngruppe und uns als junge Leute respektieren. Wir wollen auf jeden Fall unser Lachen und unseren Humor nicht verlieren. Und wir wollen zusammenhalten, auch wenn‘s mal Streit gibt. So wie eine große Familie, die zusammen lebt und jeder auch eigene Wege geht. Wir freuen uns schon sehr auf das Apartment. Da können wir immer das kochen, was uns am besten schmeckt, zum Beispiel Spaghetti mit Lachssoße oder Schnitzel mit Pommes. Wir kochen natürlich auch gesunde Sachen. Text: Julia Mayr Foto: Stephan Becker MITGESTALTUNG Die Mischung macht‘s Die zehn Bürgermentoren – mit und ohne Behinderungen – stoßen in Tettnang ehrenamtliche Projekte an und unterstützen Engagierte bei deren Ehrenamt. Bereits während ihrer Fortbildung haben die Bürgermentoren voller Elan Projekte entwickelt. Einige sind inzwischen abgeschlossen, andere Projekte laufen weiter. Zwei Projekte in Leichter Sprache haben drei Bürgermentorinnen gemeinsam entwickelt. So etwa das Lese- Cafe, das immer am ersten Samstag im Monat in der Stadtbücherei stattfindet. Es ist ein offener Treff für alle, die gerne lesen und Freude an spannenden Geschichten haben. Anschließend wird über das Gelesene geredet und sich ausgetauscht. Das Projekt Stadt- Führungen in Leichter Sprache wurde an das Tourist-Büro der Stadt Tettnang übergeben. Leichte Sprache ist ein Sprachsystem mit speziellen Regeln. Informationen sind so auch für Menschen mit kognitiven Einschränkungen verständlich. Die CafeTTeria in der Anlaufstelle für Bürgerengagement findet einmal im Monat an einem Freitagnachmittag statt. In geselliger Runde bietet eine Bürgermentorin kostenlos fairen Kaffee und faire Produkte an. Der Kaffee-Treff ist immer gut besucht von Alt und Jung sowie von Menschen mit und ohne Behinderungen. Text: Christine Barth. Sie hat sich zur Bürgermentorin ausbilden lassen und ist von Anfang an (2017) als solche in Tettnang aktiv. Nachgehakt bei Erwin Haller Die Hartnäckigkeit von Ehrenamtlichen an zwei speziellen Standorten Zebrastreifen zu schaffen, hat sich als richtig erwiesen, so das Fazit vom Agenda-Arbeitskreis „Tettnang zugänglich für alle“. Der Arbeitskreis geht Hinweisen aus der Bevölkerung für Barrierefreiheit in öffentlichen Bereichen sowie mehr Verkehrssicherheit nach. Maßgeblich hat die Aktion Erich Haller, Bürgermentor mit Handicap, angestoßen. Er berichtet dem wir-mittendrin-Reporter Torsten Calamiello. Wie kam es zu den beiden Zebrastreifen? Nach langer Beobachtung des Verkehrs in Tettnang kam mir die Idee: Mit einem Zebrastreifen in der Seestraße und Lorettostraße wächst die Sicherheit. Aber hierzu brauchte es die Hilfe des Agenda-Arbeitskreises. Die Begeisterung war am Anfang aber verhalten. Was passierte dann konkret? Ich bin hartnäckig geblieben und habe dadurch mehr Aufmerksamkeit für das Thema bekommen. Fahrzeuge wurden an den Stellen gezählt. Ich war beim Zählen dabei. Es waren 1100 Autos durchschnittlich pro Stunde und 63 Fahrräder. Meine Kollegen von den Bürgermentoren und dem Agenda-Arbeitskreis waren Helfer. Die Arbeit dauerte zwei Tage. Und es hat sich gelohnt. Jetzt halten die Autos und die Busse an, und man kommt sicher über die Straße. Ich bin jetzt auch Mitglied im Agenda-Arbeitskreis. Foto: privat

2 | 2019 3 WOHNEN Wie der zweite Geburtstag Alles begann im Juni 2001. Ich besuchte in der Linse in Weingarten die Ausstellung „Zehn Jahre Ambulant Betreutes Wohnen in Tettnang“. Sofort habe ich mir gedacht: Das kommt für mich auch in Frage. Ich begeisterte mich gleich für die Idee nach Tettnang zu ziehen. Im August 2001 besuchte ich dann dort das Sommerfest und besichtigte die Wohnung in der Schillerstraße. Ich stellte mich den drei Bewohnerinnen und Bewohnern vor und hinterließ einen guten Eindruck. Damals musste noch die Wohlfahrtspflege in Stuttgart zustimmen. Kurzum: Ich telefonierte oft nach Stuttgart, bis ich im Oktober die Zusicherung bekam. Am Montag, 12. November war es soweit: Meine Bezugsbetreuerin holte mich in Reckendürren bei Vogt ab, wo ich aufgewachsen bin und bis dahin gelebt habe. Mein Herz machte einen Freudensprung als ich in der Schillerstraße in Tettnang angekommen bin. Da ich zwischenzeitlich erkrankte, begann meine Arbeit in der Werkstatt am 2. Dezember. Inzwischen wohne ich in der unteren Wohnung im gleichen Haus. Sie ist ebenerdig. Hier ist es für mich einfacher, mich fortzubewegen. Ich fühle mich hier in meiner Wohnung und in der Stadt sehr wohl und habe noch keine Sekunde bereut. Es ist einfach toll! Ich habe viele Freundinnen und Freunde gefunden. Ich habe zahlreiche Hobbys: Schreiben, Telefonieren, Rätseln, unter Leute gehen, Hockstube, Spieleabende. Mit dem Umzug hat für mich ein neues Leben begonnen. Das Datum ist für mich wie ein zweiter Geburtstag. Text: Irmgard Weiland Fotos: privat Einsatz für den Obstgarten Früher war rund um die Kapelle alles Wiese mit einem Obstgarten, bevor die Baustelle begonnen hat. Ich bin nebenher Obstbauer und arbeite in einer Werkstatt der Diakonie Pfingstweid in Tettnang. Die Obstbäume habe ich zusammen mit meinem Onkel Ludwig gepflanzt und mit meinem Vater habe ich mich für die Obstbäume sehr stark eingesetzt. Ein paar Obstbäume sind dann umgepflanzt worden. Das finde ich gut. Ich setze mich für Dinge ein, die mir bedeutsam sind. Am Anfang habe ich mich ziemlich aufgeregt und es ging mir seelisch schlecht. Ich hatte viel Streit mit dem Pfarrer und dem Bürgermeister. Heute bin ich berühmt am Bauzaun. Ich verstehe die Wohnungsnot. Aber ich finde es trotzdem schade, dass die Stadt Tettnang alles zubaut, und dass man kein Grün mehr hat. Freude pur: Irmgard Weiland (Mitte) beim Einzug in die Schillerstraße. Mit kleiner Schwester (um 1966). Text: Thorsten Gaißer Foto: privat WOHNEN Inklusiver Lebensraum: Die Vielfalt gewinnt 131 attraktive Mietwohnungen mit 1,5- bis 4-Zimmer nach dem mikroLOFT-Konzept für Menschen mit und ohne Behinderungen entstehen bis Ende 2019 rund um die denkmalgeschützte Kapelle St. Anna in Tettnang. Für mindestens 282 Menschen wird hier neuer Lebensraum geschaffen. Die Baugenossenschaft Familienheim eG und ihr genossenschaftlicher Partner, der Bau- und Sparverein Ravensburg, erstellen in der Bauherrengemeinschaft genossenschaftliches Wohnen (BGWo) außerdem Tiefgaragen sowie oberirdische Stellplätze und einen Quartierstreff. „Uns verbindet der unbedingte Wille, bezahlbaren Wohnraum in hoher Qualität in einer intakten Nachbarschaft zu schaffen“, so Sebastian Merkle von der Baugenossenschaft Familienheim. Dieses ehrgeizige Ziel wurde von einer Projektgruppe, bestehend aus der Katholischen Kirchengemeinde St. Gallus, der Stadt Tettnang mit ihren fast 22 000 Einwohnern, der Stiftung Liebenau und der BGWo ins Visier genommen. Alle Wohnungen liegen unter dem Mietspiegel von derzeit 12,60 Euro pro Quadratmeter (Durchschnitt Gesamtquartier 9,80 Euro pro Quadratmeter). 30 Prozent sogar bei 7 Euro und 20 Prozent bei 9,50 Euro. Das Projekt wurde bereits mit dem Akademiepreis der Evangelischen Akademie Bad Boll und dem vom Land Baden- Württemberg initiierten Preis „Quartier 2020“ als innovatives Konzept ausgezeichnet. Der Quartierstreff rundet das Konzept einer guten Nachbarschaft ab. Im grünen Quartier werden neun Obstbäume gepflanzt. Text: Melanie Pees, Baugenossenschaft Familienheim e. G.

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