6 1 | 2022 INKLUSION „Must have“ für die Gesellschaft Das Motto des Protesttags lautet ganz richtig: „Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel!“. Wir brauchen ein deutliches Zeichen und konkrete Maßnahmen, damit wir in jeder Hinsicht barrierefrei zusammenleben, wohnen, arbeiten und unsere Freizeit verbringen können. Der Gedanke der Inklusion muss Kompass unserer Gesellschaft sein, damit alle Bürgerinnen und Bürger gut im Alltag klarkommen und gerechte Voraussetzungen vorfinden. Das Recht der Selbstbestimmung, Barrierefreiheit und die natürliche Chance zur Teilhabe sind keine Gnade oder „Nice to have“. Für den Einzelnen und das Zusammenleben aller sind sie „Must have“. Sie sind Qualitätsmerkmal für das Miteinander einer modernen und zeitgemäßen Gesellschaft. Barrierefreiheit endet nicht mit einer Rampe oder einem Aufzug. Blinde Personen brauchen akustische oder taktile Informationen, gehörlose Menschen kommunizieren in Gebärdensprache, Menschen, die nicht oder nicht gut lesen können, benötigen Leichte Sprache. Das alles ist möglich, leider immer noch nicht selbstverständlich. Kindern und Eltern wird häufig zu viel zugemutet, wenn sie die Kita oder Schule am Ort besuchen möchten. In exklusiven Wohn- und Werkstätten leben und arbeiten so viele Menschen wie nie zuvor. Viele Firmen zahlen lieber eine Abgabe, anstatt Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen und auf ihre Potenziale zu setzen: Ihre Expertise fehlt im Handwerk, der Wirtschaft, in Führungspositionen oder der Politik und uns fehlen Vorbilder, die bestärken und zeigen, was alles möglich ist. Wir brauchen bessere Zugänge zu Arbeit, Bildung, Digitalisierung, Gesundheit, Gebäuden, beim Wohnen, in der Freizeit sowie ein wertschätzendes Miteinander. Dafür gibt es gute Beispiele. Deshalb ist es mir so wichtig, gemeinsam gute Wege und Lösungen zu finden, damit alle Menschen barrierefrei teilhaben und sich auch selbst aktiv beteiligen können. Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen sind mir Herzensanliegen und Auftrag zugleich. Inklusion braucht Gelegenheiten für Begegnungen und Sichtbarkeit. Sie schafft Akzeptanz, Beteiligung, Normalität. Deshalb lautet das Motto meiner Amtszeit: „Beteiligung schafft Gesellschaft. Einfach Inklusion“. Mit viel Freude, Leidenschaft und unterschiedlichen Formen von Begegnungen will ich dazu beitragen, Inklusion einfach zu machen. Nur so können wir eine Gesellschaft sein, in der es normal und wertvoll ist, dass wir Menschen verschieden sind. Wir alle wollen anständige Voraussetzungen, um im Alltag gut zurechtzukommen, Besorgungen zu machen, die Schule am Ort zu besuchen, der Arbeit nachzugehen, beim Sport, im Kino, beim Treffen mit Freunden. Inklusion ist unser aller gesellschaftlicher Auftrag. Wenn sie uns in Kita, Schule, bei der Arbeit und im Alltag nicht gelingt, ist die Folge die Trennung der Gesellschaft in Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen. Dass Isolation unmenschlich sein kann, haben uns die Folgen der Pandemie gezeigt. Wir brauchen eine in jeder Hinsicht barrierefreie Gesellschaft. Dabei helfen Verbündete, auch ohne Behinderungen, die sich mit uns für Verbesserungen einsetzen und bei der Inklusion Tempo machen, damit wir gemeinsam weiter vorankommen. Text: Simone Fischer, Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen in Baden- Württemberg Foto: Axel Dressel Endlich Anerkennung Auch in diesem Jahr informieren Akteure der Stiftung Liebenau rund um den Protesttag mit Aktionen (Termine s. S. 12) zu den Themen Behinderungen und Barrieren. „Wichtig ist, dass man uns auch anerkennt“, schildert Josef Staib. Der erste Vorsitzende des Werkstattrats der Stiftung Liebenau war selbst, zumal vor der Pandemie, an Aktionen auf dem Wochenmarkt in Meckenbeuren beteiligt. Er erklärt, dass er oft den Eindruck habe, nicht wie andere Mitmenschen geachtet zu werden, und dass Menschen mit Behinderungen auch häufig nicht geglaubt wird. „Wir wollen, dass die Politiker verstehen, was wir wollen“, sagt er und nennt auch das Thema höheren Lohn. Es mangele nicht nur an Aufzügen oder Unterführungen, um etwa mit dem Rollstuhl sein Ziel zu erreichen. Der Grund für die vielen Barrieren könnte aus Sicht von Staib schlicht sein, „dass es vielleicht zu viel Geld kostet“. Bei der Aktion in Meckenbeuren haben sich neben der Bürgermeisterin auch immer Bürgerinnen und Bürger informiert. Die Akteure haben Flyer mit Infos verteilt. In diesem Jahr findet die Aktion auf dem Wochenmarkt in Meckenbeuren am 4. Mai statt. Mit von der Partie ist auch Heimbeirat Tobias Kible mit weiteren Bewohnern des gemeindeintegrierten Wohnhauses der Stiftung Liebenau in Meckenbeuren-Brochenzell. Kible sitzt selbst im Rollstuhl. Der 32-Jährige ist in seinem Wohnort als engagiertes Mitglied des Pfarrgemeinderates respektiert und als großer Fußballfan bekannt. Er will deutlich machen: „Es ist schon ein tolles Gefühl, wenn man in der Gemeinde als Rollstuhlfahrer etwas bewegen kann.“ Josef Staib hingegen hofft, am 5. Mai in Stuttgart mit Politikern ins Gespräch zu kommen, um deren Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen. Text: Anne Oschwald
1 | 2022 7 INKLUSION IN DER LEHRE Entdeckungsreise Menschenrechte Inklusion, Partizipation, Sozialräume nutzen: Fachkräfte in Kindertagesstätten, Schulen oder Einrichtungen der Jugend- oder Behindertenhilfe sind herausgefordert, Vielfalt zu gestalten, neue Perspektiven zu denken, Teilhabe zu ermöglichen und Zukunft in den Blick zu nehmen, um die Menschen, die sie begleiten, stark zu machen. In der Weiterbildung unterstützt das Institut für Soziale Berufe (IfSB) Ravensburg deshalb angehende Heilpädagoginnen und Heilpädagogen beim Hineinwachsen in ein neues professionelles Selbstverständnis und beim Entdecken ihrer eigenen Stärken. Gesellschaftliche Teilhabe ist ein Menschenrecht und „Menschenrechte gelten für alle Menschen, weil sie Menschen sind. Jederzeit und überall“, so die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Beate Rudolf. Am IfSB setzen wir uns mit den Menschenrechten auseinander. Dies soll die Studierenden stärken, für einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel im Hinblick auf eine inklusive Gesellschaft einzutreten. Behinderung wird als Bereicherung der menschlichen Vielfalt gesehen. Jedoch müssen alle lernen und bereit sein, mit Ungewöhnlichem, Irritierendem, mit Fremdheit und Anderssein offen und respektvoll umzugehen. Die Sensibilisierung für die Mechanismen der (un-)bewussten Abwertung von Abhängigkeit und Hilfebedürftigkeit ist ein Aspekt der Weiterbildung. Die Studierenden setzen sich mit Menschenbildern, mit eigenen Werten und ihren „typischen“ Denk- und Handlungsmustern auseinander. Das erweitert den Blickwinkel. Dieser mehrdimensionale Blick von Heilpädagogen öffnet für die Anerkennung der „Anderen“ in ihrer Einzigartigkeit, ihrer Entwicklung und ihrer Lebensleistung. Die Studierenden machen sich die Perspektive der Betroffenen bewusst. Nur so kann, gemeinsam mit allen Beteiligten, das Hier und Jetzt in gleichberechtigtem Miteinander, höchstmöglicher Selbstbestimmung, in sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit gestaltet werden. Echte Kontakte berühren Konkrete Begegnungen, das gegenseitige Kennenlernen und gemeinsame Berührungspunkte lassen uns menschliche Vielfalt als Bereicherung erleben. Alle Menschen sind, unabhängig von Behinderung, bei den Theatervorstellungen des IfSB willkommen. Das IfSB schätzt außerdem Kooperationen mit der Praxis. Seit vielen Jahren organisiert es für alle Bürgerinnen und Bürger ein inklusives Musik- und Kunstprojekt gemeinsam mit dem ZfP Südwürttemberg. Kunstmacher der Malwerkstatt der Zieglerschen haben Studierende und Dozenten aktuell zu einer ganz besonderen Begegnung eingeladen: ein großer Umschlag, darin ein Faltblatt, darauf ein paar Striche… So geht der Bilddialog per Post immer wieder hin und her zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig inspirieren. Eine ist Studierende und der andere ist Kunstschaffender in der Malwerkstatt. Es ist aufregend, meint eine Studierende, die herkömmlichen Wege der verbalen Kommunikation zu verlassen und sich auf den anderen Fremden im Bild einzulassen. Mal sehen, wohin es führt, wenn der Weg und die Sprache durch den Farbtopf gehen. Text/Foto (1): Heidi Fischer, Leitung Fachschule für Heilpädagogik am Institut für Soziale Berufe Ravensburg; Fotos: privat (2) Eine besondere Begegnung in Form eines Briefes: die kreative Kommunikation „wandert“ zwischen verschiedenen Menschen hin und her. Als Heilpädagogin bedeutet Inklusion für mich, die Begleitung aller Menschen beim individuellen, ressourcenorientierten Lernen inmitten unserer Gesellschaft. Es geht darum „Brücken zu bauen“, und auch die sogenannten „Nicht- Behinderten“ zu unterstützen, mit Unterschiedlichkeit und Vielfalt umzugehen, um jedem einzelnen gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Stefanie Emhart, Studierende Mitmachen zu können und dabei zu sein, hängt davon ab, wie Menschen miteinander umgehen. Inklusion kann nur funktionieren, wenn die Mitmenschen, Organisationen und auch die Politik für die eigene Meinung, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse offen sind. Wichtig ist dabei, dass jedem etwas zugetraut wird und die Stärken wichtiger als die Schwächen sind. Der Mensch muss mit allem, was er hat, Respekt und Akzeptanz erleben. Kathrin Stöhr, Studierende
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