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WIR mittendrin - 1/2021

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6 1 | 2021 GLEICHSTELLUNG Für ein inklusives Europa Der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist ein ganz besonderer Tag. Ein Tag, an dem einmal mehr klar wird: Inklusion ist ein europäisches Thema. Turnusgemäß hatte Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020 die europäische Ratspräsidentschaft inne, überschattet von der Corona- Pandemie. Ein Projekt, das ich initiiert hatte und mir besonders am Herzen lag, musste ebenfalls komplett neu gedacht werden: Ein digitales Treffen aller europäischen Behindertenbeauftragten und der Zivilgesellschaft mit dem Ziel, sich auszutauschen und klare Handlungsfelder für die Europäische Kommission und ihre „European Disability Strategy“ zu formulieren.Schnell wurde während der Konferenz deutlich, Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. dass die Herausforderungen für leider nicht immer selbstver- Menschen mit Behinderungen in ständlich, zum Beispiel, wenn sie den verschiedenen europäischen in Einrichtungen leben. Die barri- Mitgliedsstaaten sehr ähnlich erefreie und angemessene Ge- sind. Die Coronapandemie hat sundheitsversorgung ist nicht ge- bestehende Probleme noch sichtsichert. Die Chancengleichheit im barer gemacht. Zum Beispiel im Berufsleben ist nicht immer ge- Bereich der barrierefreien Komgeben. Einig waren wir uns auch munikation. Tagesaktuelle Infor- bei strukturellen Fragen. Eine mationen stehen immer noch viel Forderung der Konferenz war, ei- zu selten in Gebärdensprache nen europäischen Behinderten- oder Leichter Sprache zur Verfübeauftragten einzusetzen. Eine gung. Auch die Freiheit, Teilhabe Stelle, die bei allen politischen und Unabhängigkeit für Men- Vorhaben der EU eingebunden schen mit Behinderungen ist wird, um die Belange der Menschen mit Behinderungen zu vertreten. Eine Stelle, die dazu beiträgt, dass die Lebensverhältnisse für Menschen mit Behinderungen sich angleichen – und zwar zum Guten. Inklusion ist nach wie vor nicht in allen Lebensbereichen selbstverständlich und deswegen gibt es Tage wie den Europäischen Protesttag. Um immer wieder lautstark auf das Menschenrecht Inklusion hinzuweisen. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass die europäische Idee von Grund auf eine inklusive Idee ist. Es ist Aufgabe der Politik, aber auch von uns allen, diese Idee durch gemeinsames Handeln zu stärken und mit Leben zu füllen. Für ein inklusives Europa. Text: Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen Foto: Henning Schacht MITBESTIMMUNG Das inklusive Wahlrecht Seit Anfang 2019 sind auch über 85 000 Menschen mit Behinderungen in Vollbetreuung wahlberechtigt. Unter Vollbetreuung stehen meist Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen. Im Superwahljahr 2021 finden neben zwei Kommunalwahlen, in sechs Bundesländern Landtagswahlen statt und im September wird der Bundestag ge- als verfassungswidrig erklärte. wählt. Nachdem Menschen mit Für die Kommunalwahlen 2019 einer Vollbetreuung bisher von ermöglichte eine Übergangslö- diesen Wahlen ausgeschlossen sung den Betroffenen, auf dieser waren, wollte ihnen 2018 erst- Ebene zu wählen. Seit Oktober mals eine Gesetzesänderung letzten Jahres ist es nun auch in das Wahlrecht einräumen. Der Baden-Württemberg gesetzlich Gesetzesantrag wurde zunächst verankert, dass Menschen mit abgelehnt. Fahrt nahm das Behinderungen, die unter Vollbe- Thema dann aber auf, als das treuung stehen, wählen dürfen. Bundesverfassungsgericht im Die anderen Bundesländer hatten Januar 2019 den pauschalen bereits zuvor ihr Gesetz dement- Ausschluss von Menschen mit sprechend geändert. Dieses Beeinträchtigungen von der Wahl inklusive Wahlrecht soll nun dauerhaft im Gesetz verankert werden. Beim Wahlvorgang ist für Menschen mit Beeinträchtigungen eine Wahlassistenz zulässig. Es gibt Wahlhelfer vor Ort, die dafür in Anspruch genommen werden können. Allerdings muss der oder die Wahlberechtigte eigenhändig ankreuzen. Auch eine Vertreterin oder ein Vertreter kann ihr Wahlrecht nicht ausüben. Für Informationen sind Wahlhilfen in Leichter Sprache und Broschüren dienlich, beispielsweise von der Bundeszentrale oder den Landeszentralen für politische Bildung. Viele Parteien stellen ihr Wahlprogramm zusätzlich in Leichter Sprache vor und beantworten Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Auch die Stiftung Liebenau informiert über das inklusive Wahlrecht. Sie ermutigt außerdem Menschen mit Behinderungen, sich aktiv an der Wahl zu beteiligen. Coronabedingt gibt es anstelle von Wahlveranstaltungen viele Informationen auf der Website der Stiftung Liebenau. www.stiftung-liebenau.de www.lpb-bw.de www.bpb.de/die-bpb/ informationen-inleichter-sprache/ Text: Julia Weber, Stiftung Liebenau Foto: Adobe Stock

1 | 2021 7 PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN Vom Betroffenen zum Berater Eigene Erfahrungen mit einer psychischen Krankheit geben Erfahrungen, die bei der persönlichen Beratung sehr hilfreich sind. Stefan Reichle vom EUTB (Ergänzende Unabhängige Teilhabe Beratung) Ravensburg-Sigmaringen berichtet. Mein Name ist Stefan Reichle. Ich bin 1975 in der Nähe von Ravensburg geboren und aufgewachsen. Nach meinem Schulabschluss und meinem Zivildienst war ich arbeitslos. Ich bekam Geld vom Amt. Ich lebte in den Tag hinein und träumte von meinem zukünftigen Leben. Von meinem Elternhaus zog ich direkt mit ehemaligen Schulkameraden zusammen. Ohne Beschäftigung kamen mir in der Wohngemeinschaft immer schlechtere Gedanken. Ich kam in eine Krise. Wohnungen und Arbeitsstellen wechselten nun häufig. 1999 begann ich eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Dann wurde ich krank und ließ mich von meinem Hausarzt in das psychiatrische Krankenhaus in Weissenau einweisen. Man diagnostizierte eine psychische Krankheit. Die Ärzte und Pfleger halfen mir EX-IN-Kurs In einem EX-IN-Kurs erlangt man die Zertifizierung als EX-IN-Genesungsbegleitung – Experte beziehungsweise Expertin aus Erfahrung in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung. Ihre Ausbildung dauert ein Jahr und beinhaltet zwölf Wochenendmodule, zwei Praktika, eine mit Gesprächen und Medikamenten. Man konnte malen oder leichten Sport machen. Obwohl es mir nur ein bisschen besser ging, wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich wohnte dann wieder allein. Es ging mir nicht gut. Darum hat der Arzt mir vorgeschlagen, zur Rehabilitation in ein Haus mit anderen Menschen mit psychischen Schwierigkeiten zu ziehen. Dort hatte jeder sein eigenes Zimmer. Es gab Sozialarbeiter, die tagsüber da waren. Manchmal kam ein Arzt oder eine Psychologin. Es gibt eine Werkstatt, in der die Bewohner leichte Tätigkeiten ausführen. Das Jahr in Baienfurt hat mir sehr geholfen. Ich machte eine Abschlusspräsentation und ein individuelles Portfolio. Die eigene Genesungsgeschichte ist zentral, die Teilnehmenden setzen sich intensiv damit auseinander. Gleichzeitig lernen sie Methoden, wie die eigenen Erfahrungen für andere Betroffene hilfreich genutzt werden können. www.ex-in.de neue Ausbildung zum Bürokaufmann mit Abschluss. Dann kam wieder eine wilde Zeit ohne Arbeit. Es ging mir gut, deshalb nahm ich keine Medikamente mehr. Ohne Arbeit und ohne Medikamente wurde ich wieder krank und musste ins psychiatrische Krankenhaus. Sieben Jahre lebte ich danach im ambulant betreuten Wohnen der Arkade. Zuerst arbeitete ich in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in Weissenau. Dann machte ich ein Praktikum in einem Betrieb in Bad Waldsee und bekam dort direkt eine Arbeitsstelle, wo ich zehn Jahre lang gearbeitet habe. 2015 zog ich in eine eigene Wohnung. 2018 machte ich als ein Mensch mit einer Erfahrung in der Psychiatrie eine Ausbildung zum EX-IN-Genesungsbegleiter. In dieser Schulung lernte ich mit anderen Menschen mit schwieriger psychischer Entwicklung mich selbst zu verstehen – mitsamt meiner psychischen Krankheit. Vor allem geht es darum, zu verstehen was hilft beim Gesundwerden und -bleiben. Sie hat mir geholfen, reflektiert nachzudenken, was mir guttut und was mir hilft, gut zu leben. Wichtig sind für mich Bewegung in der Natur, Begegnung mit anderen und Beschäftigung an einer Arbeitsstelle mit anderen Menschen. Seit diesem Jahr arbeite ich bei der EUTB Ravensburg-Sigmaringen in Ravensburg. Wir beraten Menschen mit Behinderungen, Menschen, die länger krank sind, sowie ihr Umfeld. Das besondere an der EUTB ist, dass neben Sozialarbeitern auch Menschen mit eigener Behinderungserfahrung beraten. Wir haben vieles mit der Behinderung erlebt und erfahren und wissen deshalb vieles. Damit können wir anderen helfen. Die Betroffenen können sich kostenlos direkt an uns wenden. www.eutb-rv-sig.de Stefan Reichle an seinem Arbeitsplatz bei der EUTB, wo er anderen durch seine eigenen Erfahrungen weiterhilft. Foto: EUTB-Ravensburg-Sigmaringen Hintergrund Mehr als jeder vierte Erwachsene bundesweit erfüllt im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern. Psychische Erkrankungen sind für die fast 18 Millionen Betroffenen und ihre Angehörigen oft mit großen Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben verbunden.

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