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Stellungnahme zum Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF)

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7 Verschiedene

7 Verschiedene Fallkonstellationen und ethische Bewertung a) Fallkonstellationen Für eine ethische Bewertung sind zunächst verschiedene Fälle zu unterscheiden: Ethisch unproblematisch sind Fälle, in denen Menschen in der akuten Sterbephase Nahrung oder Flüssigkeit ablehnen, weil der Körper nur noch wenig oder gar nichts mehr verdauen kann und deshalb keine Hunger- oder Durstsignale aussendet. 10 Aus einer ethischen Perspektive sind ebenfalls Fälle unproblematisch, bei denen die Freiwilligkeit des Verzichts fehlt oder stark beeinträchtigt ist, weil eine Person in ihren kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt ist, z.B. aufgrund einer Demenz oder einer psychischen Störung. Ethisch relevant sind folgende zwei Fallkonstellationen, in denen Personen 1) eine schwere Krankheit haben oder sehr alt sind, sich aber nicht in einem unumkehrbaren Sterbeprozess befinden und bei denen ein freier Wille auszumachen ist. Sie verfolgen die Absicht zu sterben. In diesen Fällen ist nach Ansicht des Ethikkomitees von einer Form des Suizids zu sprechen. 2) eine schwere Krankheit haben, sich nach ärztlicher Prognose in einem unumkehrbaren Sterbeprozess befinden und bei denen ein freier Wille auszumachen ist. Sie verfolgen die Absicht, die Sterbephase zu verkürzen, um ihr Leiden zu vermindern. In diesen Fällen ist nach Ansicht des Ethikkomitees nicht von einer Form des Suizids zu sprechen. Es handelt sich positiv formuliert um eine frei intendierte Unterlassung einer lebensnotwendigen Einnahme von Nahrung und Flüssigkeit. Im ersten Fall liegt die ausdrückliche Absicht vor, sich selbst zu töten. Dabei tritt der Tod durch eine natürliche Reaktion des Körpers ein, nicht durch eine äußere Einwirkung. Insofern ist es hier berechtigt, von einer Form des Suizids zu sprechen. 10 Fehn und Fringer bezeichnen diese Fälle ihrer Untersuchung als „implizite Form des Verzichts“ oder als natürlichen Prozess. Die Variante sei weniger Ausdruck eines persönlichen Willens zu Autonomie und Selbstgestaltung, sondern lasse sich eher als Folge von Lebensmüdigkeit verstehen. Vgl. Sabrina Fehn / André Fringer, Notwendigkeit, Sterbefasten differenzierter zu betrachten, in: SÄZ 98 (2017/36), 1161-1163, hier: 1162. 6

Im zweiten Fall kann die betroffene Person nicht mehr beabsichtigen zu sterben: Ihr Sterbeprozess ist aus physiologischen Gründen schon eingeleitet. Ihr bleibt nur noch die Möglichkeit, den Zeitpunkt des Sterbens vorzuverlegen, d. h. den Sterbeprozess zu beschleunigen und ggf. dadurch ihr Leiden zu verkürzen. 11 Die Handlung, die der Patient vollzieht, kann nicht als Suizid im eigentlichen Sinne, sondern als zeitlich selbstbestimmtes Fügen in den eigenen Sterbeprozess verstanden werden. 12 Es liegen ähnliche Handlungseigenschaften wie bei einem Therapieabbruch vor. b) Ethische Bewertung Ethische Beurteilungen, die sich auf das menschliche Leben beziehen, sind oft von den Sinnhorizonten abhängig, von denen aus argumentiert wird. Die folgenden ethischen Beurteilungen werden jeweils aus einem säkularen und einem christlichen Sinnkontext formuliert. Zu Fallkonstellation 1: Ein grundsätzliches Urteil zum Suizid hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ im Jahr 2020 gefällt. Die Grundaussage ist, dass es „ein Recht auf [ein] selbstbestimmtes Sterben“ gebe. 13 Dieses Recht sei vom Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst und enthält als grundlegende Prinzipien der Verfassung die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und der Freiheit. Demnach sei die „selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben […] unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde.“ 14 11 Im Unterschied dazu, könnte ein FVNF im ersten Fall mehr Leiden verursachen. 12 Vgl. Ethikrat katholischer Träger von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen im Bistum Trier, Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, Vallendar 2018, 19. In der Literatur ist auch von einem „‘Einstimmen‘ in den Sterbeprozess“ die Rede. Vgl. Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann, Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? Ein Beitrag zum Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), in: ZfmE 65 (3/2019), 307. 13 Vgl. BVerfG, 2 BvR 2347/15, Leitsatz 1a. 14 Ebd., Rn. 211. 7

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