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Stellungnahme zum Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF)

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4 Adressaten Diese Stellungnahme richtet sich an alle in der Stiftung Liebenau, die mit dem Konflikt Autonomie und Fürsorge am Lebensende konfrontiert sind: Sie bietet Hospiz-, Pflege- und Palliativeinrichtungen eine reflektierte Haltung vor dem Horizont des christlichen Welt- und Menschenbildes an. Mitarbeitende bekommen praktische Hilfestellungen im Umgang mit dem FVNF. Betroffenen und Angehörigen soll diese Stellungnahme als Informationsquelle dienen, um wohlerwogene Entscheidungen treffen oder mittragen zu können. 5 Verlauf des Sterbeprozesses bei FVNF 6 Der FVNF bewirkt zunächst eine vermehrte Ausschüttung körpereigener Endorphine, die zu einer gewissen Euphorisierung und zu Schmerzreduzierung führen. Das Hungergefühl nimmt rasch ab und verschwindet ab dem dritten oder vierten Tag. In dieser Zeit ist die Person meist bei klarem Bewusstsein und eine Entscheidungsänderung, d.h. die Wiederaufnahme von Speisen und Getränken ist problemlos möglich. Nach etwa sieben Tagen ohne Nahrung und Flüssigkeit stellen die Nieren die Urinproduktion ein. Der Mensch wird schwächer und somnolent. Die Phase wird häufig nicht als unangenehm empfunden. Es kommt zunehmend zu einer allmählichen Bewusstseinseintrübung. Der Tod tritt nach etwa ein bis zwei Wochen aufgrund von Herzrhythmusstörungen, Urämie oder Pneumonie ein. Verstirbt die Person innerhalb von sieben Tagen, ist die Todesursache vermutlich eine Erkrankung und nicht der FVNF. Wie jedes Sterben geht auch der Tod durch FVNF mit Schmerzen und Bewusstseinstrübung einher. Gleichzeitig wird er als friedlich und ruhig beschrieben. 6 Ist FVNF ein Suizid? Die Frage, ob FVNF in ethischem und rechtlichem Sinne ein Suizid darstellt, ist in der Literatur nicht abschließend geklärt. In der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur wird vor allem mit weiten Definitionen des Suizids gearbeitet, die die Tötungsabsicht und -handlung mit Todesfolge betonen. 7 6 Vgl. insgesamt: Feichtner u.a., 355 (s. Anm. 5). 7 Vgl. Dieter Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid?, in: Ethik in der Medizin 27 (4/2015), 315-324. Birnbacher beruft sich auf die WHO-Definition von 1986: „Suicide is an act with a fatal outcome which the deceased, knowing or expecting a fatal outcome had initiated and carried out with the purpose of provoking the changes he desired“. Vgl. auch den Überblick bei Barbara Schneider / Uwe Sperling, Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (VFNF) – aus Sicht der Suizidologie, in: ZfmE 65 (3/2019), 227-236. 4

Einige Autorinnen bezeichnen den FVNF als eine Art „‘passiver Suizid‘ im Sinne eines Sich-selbst-sterben-Lassens“. 8 Andere wollen den Suizid deutlich vom FVNF unterscheiden und bezeichnen den Verzicht als Handlung eigener Art. 9 Die wesentlichen Unterschiede von FVNF zum Suizid im üblichen Sinn sind folgende: • Beim FVNF gibt es kein äußerliches „Hand-an-sich-Legen“ durch z.B. ein Messer oder das Schlucken von todbringenden Substanzen. • Der Tod tritt beim FVNF nicht unmittelbar ein, sondern nach einem längeren Sterbeprozess. Insofern kann die Entscheidung des FVNF je nach Zeitpunkt ohne Folgeschäden für die betroffene Person zurückgenommen werden. Um den FVNF situationsgerecht vom Suizid im üblichen Sinne unterscheiden oder zuordnen zu können, sollten verschiedene Handlungseigenschaften in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden. Nach Auffassung des Ethikkomitees gehören zusätzlich zu den oben angeführten Handlungseigenschaften die Absicht einer Person und ihr Gesundheitszustand. Will ein Mensch aus freien Stücken das Leben beenden, ohne offensichtlich in einer Leidensphase zu sein, die laut ärztlicher Prognose mit dem Tod endet? Oder will ein Mensch ganz bewusst eine solche Leidensphase verkürzen? Die Konsequenz ist in beiden Fällen der Tod. Aus gesinnungsethischer Sicht ist der erste Fall als Suizid aufzufassen, der zweite Fall ähnelt dem Behandlungsveto, das nicht immer eine suizidale Handlung darstellt. Der zweite Fall stellt keinen Suizid dar, weil die Person keine Aussicht auf Verbesserung ihrer Leidenssituation hat, keine „Hand an sich legt“ und der Tod in nächster Zeit sehr wahrscheinlich eintreten wird. Es erscheint daher sehr nachvollziehbar, dass eine Person in dieser Situation ihr Leiden verkürzen will. 8 Schneider/Sperling (2019), 231 (s. Anm. 7). 9 Vgl. die Beiträge von Oliver Tolmein, Gerald Neitzke und Bernd Alt-Epping, in: Coors u.a. (s. Anm. 3). 5

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