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Menschenwürde und Selbstbestimmung

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6. Abschließende

6. Abschließende Gedanken: Ethische Besprechung der Situation von Frau H. im Horizont von Menschenwürde und Selbstbestimmung (vgl. Kap. 1.) 6.1. Normenkonflikt Der Beispielfall, wie er einleitend dargestellt wurde, lässt sich ethisch als ein Normenkonflikt beschreiben. Im Widerspruch zueinander stehen zwei Normen: Auf der einen Seite erhebt Frau H. den normativen Anspruch, sich selbst bestimmen zu dürfen. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland spricht in diesem Zusammenhang von einem Grundrecht auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 2 GG). Und auf der anderen Seite steht die Norm, dass die Gesundheit von Menschen zu schützen ist. Alle haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit (vgl. Art. 2 Abs. 2 GG). Es war vor allem das Baden-Württembergische Gesundheitsministerium, das sich für die strikte Einhaltung der zweiten Norm entschieden hat. Das bedeutet, für einen begrenzten Zeitraum in die Selbstbestimmung von Menschen einzugreifen. Die ethische Frage ist, ob der normative Widerspruch zwischen Selbstbestimmung und Gesundheitsschutz aufgelöst werden kann. Ethisch ist zu überlegen, welchem der beiden Werte begründetermaßen der Vorzug zu geben ist. 33 In der Beschreibung des Falls heißt es, dass der Leitung des Pflegeheims keine „befriedigende Handlungsoption“ (Kap. 1.1.) zur Verfügung stand, den Fall einvernehmlich mit organisatorischen Mitteln zu lösen. Dieser Umstand – ist er tatsächlich gegeben – führt dazu, dass der Normenkonflikt sogar eine dilemmatische Form annimmt, das heißt, er kann nicht für beide Seiten zufriedenstellend aufgelöst werden: Die eine Möglichkeit ist, dem Gesundheitsschutz einen Vorrang zu gewähren. Dann muss in Zeiten einer Epidemie die Freiheit von Frau H., weiterhin Besuche empfangen zu können, eingeschränkt werden. Die andere Möglichkeit läuft darauf hinaus, die Besuchsfreiheiten nicht per Gesetz einzuschränken, damit aber gegen die Norm des Gesundheitsschutzes zu verstoßen. Die Heimleitung sah sich gezwungen, die erste Handlungsalternative umsetzen: „Der Gesundheitsschutz aller Bewohnerinnen ist vorrangig zu behandeln!“ Das war damals die rechtliche Vorgabe aus dem Gesundheitsministerium. Ethisch anders läge der Fall, wenn es für die Heimleitung doch noch eine räumliche Möglichkeit gegeben hätte, Besuche im Haus zuzulassen. Ob diese Variante tatsächlich ausgeschlossen war, kann ohne weitere Informationen von außen nicht beurteilt werden. Wäre eine ansteckungsfreie Besuchsmöglichkeit realisierbar gewesen, hätte sowohl die freie Selbstbestimmung als auch der Gesundheitsschutz gewährt werden können, – wenn auch unter eingeschränkten Bedingungen. Wären solche Umstände gegeben, würde es sich um einen nichtdilemmatischen Normenkonflikt handeln. Da Entscheidungen in Dilemmasituationen immer negative Effekte nach sich ziehen, weil ein Wert nicht verwirklicht werden kann, erscheint es ethisch geboten, die jeweilige Entscheidung regelmäßig zu überprüfen. Wie die Pandemiesituation inzwischen gezeigt hat, konnten Instrumente entwickelt werden (Tests, Impfungen, Hygieneschutz etc.), die den Besuch im Altenheim ohne unverhältnismäßiges Gesundheitsrisiko erlauben. 6.2. Die Menschenwürde ist betroffen Hat sich nun die Enkelin von Frau H. zu Recht auf die Menschenwürde ihrer Großmutter berufen? Diese Frage beantwortet das Ethikkomitee mit einem eindeutigen „Ja“. Im Beispielfall ist die Menschenwürde von Frau H. betroffen, weil es um ihren Anspruch geht, in den Angelegenheiten ihres eigenen Lebens sich selbst bestimmen zu dürfen. Die freie Selbstbestimmung ist Ausdruck der Menschenwürde. Dieser Gedanke ist ethisch zentral. Von ihm ausgehend, stellt sich dann die Frage, was die Menschenwürde ist. Diese Frage in einem grundsätzlichen Sinne zu beantworten, war dem Ethikkomitee wichtig, weil die Menschenwürde heute unter einem enormen Rechtfertigungsdruck steht. 6.3. Die Menschenwürde lässt sich verteidigen Unsere grundsätzlichen Reflexionen haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Menschenwürde großen Gefährdungen ausgesetzt ist. Vor allem innerhalb der Philosophie gibt es Richtungen, die behaupten, dass die Menschenwürde ein bloß zufälliger Wert sei beziehungsweise als absoluter Wert gar nicht existiere (vgl. Kap. 2.2.). Gegen solche Tendenzen konnte aufgezeigt werden, dass sich die Menschenwürde sehr wohl verteidigen lässt: Im Rahmen der biblischen Theologie kann nachgewiesen werden, dass die „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen eine Metapher für das ist, was man in einer säkularen Sprache als „das Unverfügbare am Menschen“ ausdrücken könnte. Philosophisch lässt sich die Menschenwürde als derjenige Wert begründen, der letztlich allen 33 Die Ethik stellt dafür praktische Tools und Vorzugsregeln bereit. Ethische Fallbesprechungen sind eine Möglichkeit, solche Wertekonflikte zu bearbeiten. Dabei können folgende Regeln zur Anwendung kommen: Alle Betroffenen sind gleichermaßen zu beteiligen. Es ist diejenige Handlungsoption vorzuziehen, die vergleichsweise praktikabel, effizient (Verhältnismäßigkeit von Zielen und Mitteln), wertorientiert (Schutz von Werten) und ohne große negativen Folgewirkungen umgesetzt werden kann. 26 27

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