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Leitlinien zum Umgang mit Sexualität und Behinderung

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Mitarbeitende der

Mitarbeitende der Liebenau Teilhabe haben sich in den Jahren 2004/2005 intensiv mit dem Thema »Sexualität und Behinderung« auseinandergesetzt. Ein Fachtag im Juli 2004 mit Prof. Joachim Walter bildete den Auftakt, die Weiterarbeit leistete eine Arbeitsgruppe, die aus dem Vortrag und den inhaltlichen Ergebnissen der Workshops diese Leitlinien erarbeitete. Ziel der Leitlinien ist es, den Mitarbeitenden der Liebenau Teilhabe Orientierung und Unterstützung zu sein. Sie stecken den Handlungsrahmen ab und bieten Sicherheit. Die Leitlinien wollen keine »Patentlösungen« oder allgemein gültige Vorgehensweisen liefern. Die Mitarbeitenden sind gefordert, den einzelnen Menschen mit Behinderung in seinen Wünschen und Bedürfnissen wahrzunehmen, zu verstehen und für den Menschen stimmige Möglichkeiten zu finden. 2. Einführende Überlegungen zum Thema Sexualität Obgleich das Thema Sexualität in den vergangenen Jahren in den Diskussionen einen breiten Raum einnahm, zeigt der Blick in die eigenen Reihen, dass es ungeachtet aller aufgeklärten und toleranten Ansätze immer noch mit vielen Tabus behaftet ist. Das beginnt schon bei der Grundhaltung und Einstellung der Mitarbeitenden zur Sexualität. Jeder und jede hat seine und ihre eigene Sozialisation zu diesem Thema und entsprechend eng oder frei sind dann die Maßstäbe, die bei der Begleitung von Menschen mit Behinderung angesetzt werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Mitarbeitende sich bewusst mit ihren Einstellungen auseinandersetzen. Die Leitlinien mögen dazu als Unterstützung dienen. Um die Auseinandersetzung mit dem Thema fundiert anzugehen, ist ein gemeinsames Verständnis bzw. eine Definition von Sexualität hilfreich. An die Stelle der jahrhundertelangen Abwertung von Sexualität und Erotik, die in der Tradition des christlichen Glaubens und der platonischen Philosophie wurzelt, tritt heute oft eine starke Überbewertung. Dies birgt die Gefahr, auch Zärtlichkeit und Liebe vor allem auf einer körperlichen Ebene zu definieren. Allzu häufig wird Sexualität eng verstanden als Genitalsexualität. Sexualität ist jedoch weitaus mehr. Sie gehört wesentlich zu jedem Menschen und ist Teil seiner Lebenskraft. Sexualität erstreckt sich auf alle Lebensphasen des Menschen und gewinnt schon in der frühesten Kindheit an Bedeutung. Sie hört auch nicht in einem bestimmten Alter auf. Gegenüber einem enggeführten Verständnis von Sexualität hat schon in den 70er Jahren der niederländische Moraltheologe Paul Sporken eine überzeugende Definition entwickelt: Er unterscheidet verschiedene Bereiche der Sexualität. Sie umfasst den »äußeren Bereich« der allgemein menschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen, die Identität als Mann und Frau, den »Mittelbereich« von Zärtlichkeit, Gefühlen und Erotik und den »engen Bereich«, der die intensivsten Formen menschlicher Lust und sexueller Gemeinsamkeit zweier Menschen darstellt. 3 Dabei gilt, dass alle Bereiche gleichberechtigt nebeneinander stehen und nicht ein Bereich dem anderen über- oder untergeordnet werden kann. Auf dieser Basis hat jeder Mensch Sexualität. Im Rahmen der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und der Normalisierung des Alltags haben sich viele Veränderungen und Entfaltungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung ergeben. Gleichzeitig gibt es neben diesen Entwicklungen immer noch Grenzen und Herausforderungen, die anzugehen sind. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit dem Thema »Sexualität« eine immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe für die Mitarbeitenden. 3 Sporken 159. Seite 4

3. Sexualität als Wesensmerkmal und Grundrecht jedes Menschen »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, ...« (Art. 2, GG). Sexualität und Partnerschaft sind Teil der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Das Recht auf Sexualität beinhaltet Aspekte wie Intimsphäre, sexuelle Identität, freie Partnerwahl, Sexualaufklärung, Sensualität, Erotik bis hin zum Kinderwunsch. Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis und ein erfülltes Sexualleben trägt wesentlich zu Wohlbefinden und Ausgeglichenheit eines Menschen bei. Durch Einschränkungen, die sich häufig im Rahmen des institutionellen Lebenskontextes von Menschen mit Behinderungen ergeben, wird dieses Wohlbefinden der Menschen mit Behinderung jedoch deutlich eingeschränkt. »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« (Art. 3, GG). Diese Gleichstellung und Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung gilt für alle Bereiche des menschlichen Lebens – auch für Partnerschaft und Sexualität. Zur Verwirklichung sexueller Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung nennt Prof. Joachim Walter 4 Standards und formuliert diese als Rechte im Sinne von Menschenrechten: z.B. das Recht auf Privatheit und eigene Intimsphäre, das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit (Schutz vor sexuellen Übergriffen) oder das Recht auf Sexualpädagogik und Sexualberatung. Sexualität will gelebt und erfahren werden. So unterschiedlich wie die Menschen sind auch ihre Wünsche und Bedürfnisse im Hinblick auf Liebe, Lust und Intimität. Schwierigkeiten im Umgang mit ihrer Sexualität sind nicht vorrangig auf die geistigen oder körperlichen Einschränkungen von Menschen mit Behinderungen zurückzuführen; weit mehr sind die Rahmenbedingungen der Einrichtung, in der die Menschen leben, für den Mangel an sexueller Selbstbestimmung verantwortlich. Anliegen und Aufgabe der Liebenau Teilhabe und ihrer Mitarbeitenden ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, die das Leben von Sexualität ermöglichen und das Maß an Fremdbestimmung weitestgehend minimieren. Dabei ist es wichtig, nicht die eigenen Einstellungen, Meinungen, Normen und Praktiken zum Maßstab für Menschen mit Behinderungen zu machen. Denn jede Persönlichkeit bringt ihre eigene, individuelle Sexualität mit sich und hat das Recht, diese auf ihre ganz persönliche Art und Weise zu leben. Aus dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung leitet sich stets die Pflicht ab, die Würde und die Rechte anderer Menschen zu wahren. Selbstbestimmte Sexualität hat dort Grenzen, wo Selbstbestimmung und Intimsphäre anderer gegen deren Willen eingeschränkt oder verletzt wird. Die individuellen Vorstellungen von Sexualität werden heute besonders von den Medien geprägt. Sexualität ist demnach verbunden mit Attraktivität, Jugendlichkeit und Potenz. Damit wäre sie jedoch nur einem eingeschränkten Personenkreis vorbehalten. Sexualität und Erotik sind aus einer ganzheitlich-menschlichen Perspektive zu verstehen, wie Sporken in seinem Modell vermittelt (siehe oben Kap. 2). Das bedeutet, dass Zärtlichkeit nicht nur im Zusammenhang mit körperlicher Berührung, sondern auch in ihrer seelischen und geistigen Dimension gesehen wird. Gerade für Menschen mit Behinderungen ist es wichtig zu erfahren, dass sie von anderen als liebenswert empfunden werden. Angemessene körperliche Nähe ist eine Möglichkeit dies auszudrücken. 4 Walter, Orientierung 5f. Vgl. dazu ausführlich: Vortrag von Prof. Walter am Fachtag der Liebenau Teilhabe am 01.07.2004. Seite 5

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