HERR F. LÄSST SICH NICHT REINREDEN Protokoll einer Ethischen Fallbesprechung Selbstbestimmung ermöglichen, Wünsche respektieren, Teilhabe fördern. Sonst noch was? Die Ansprüche, die Menschen in sozialen Berufen an sich und ihre Arbeit stellen, sind hoch. Aber was ist, wenn die Selbstbestimmung ihrer Klienten zur Selbstgefährdung führt? Wenn die Kommunikation begrenzt, die Kraft zur Empathie erschöpft ist? Um in solchen verfahrenen Situationen systematisch neue Handlungsoptionen zu finden, kann eine Ethische Fallbesprechung (EFB) helfen. Eine schwierige Geschichte Die Geschichte von Herrn F. ist schnell erzählt: Der 49-Jährige wohnt seit drei Jahren in einem ambulant betreuten Appartement. Er darf offiziell eine Katze halten, füttert allerdings regelmäßig mehrere Katzen, die in seiner Wohnung ein- und ausgehen. Er kann sich nur schwer von Dingen trennen. Wohnung und Keller quellen über: Kleidung, schimmelnde Nahrungsvorräte, allerlei Fundstücke. Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Küche, Müll und Katzenstreu 36 Schwerpunkt
versperren den Weg auf den Balkon. Seine gesundheitliche Verfassung ist schlecht, er hat Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und verschiedene Hautkrankheiten, die möglicherweise auch mit seiner mangelnden Körperhygiene zusammenhängen. Behandeln lässt Herr F. sich nicht. Es sei sein Leben, meint er, er ließe sich nicht hineinreden. Von seinen medizinischen Prognosen – erhöhtes Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko – bleibt er unbeeindruckt: „Wir müssen alle irgendwann sterben.”, sagt er. Gleichzeitig klagt er darüber, dass sich niemand um ihn kümmere. Verantwortung versus Überlastung Für die Mitarbeitenden des ambulanten Dienstes ist Herr F. in seiner Wohnung nicht mehr auszuhalten. „Das ist doch nicht mehr menschenwürdig. Wir müssen da Verantwortung übernehmen! Außerdem sind die Belastungsgrenzen meiner Mitarbeitenden erreicht: Immer wieder ist Herr F. Thema im Team und wir kommen nicht weiter”, meint die Leitung am Telefon des Ethikers, um eine Ethische Fallbesprechung (EFB) anzufragen. Der Ethiker nickt. Er hat prinzipiell ein offenes Ohr, wenn Mitarbeitende vom schwierigen Umgang mit ihrer Klientel berichten. Im Gespräch mit dem Anrufer wird geklärt, ob Autonomie, körperliche und emotionale Gesundheit, Fürsorge oder Gerechtigkeit bei dem konkreten Anliegen eine Rolle spielen. Wenn einer der Werte eingeschränkt ist oder mit einem anderen in Konflikt steht, kann eine EFB einberufen werden. Bei den Berichten, die der Ethiker hört, ist das meistens der Fall. Prinzipien im Rundumblick Am Tag der EFB stehen Getränke und Gebäck im Besprechungsraum der Ambulanten Dienste bereit. „Ich mag Süßes”, denkt der Ethiker. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wird die „Sorge” um Herrn F. von allen beleuchtet: Hausärztin und Psychologe, Bezugsbegleiter, gesetzliche Betreuerin, Leitung und pädagogischer Fachdienst bringen ihre Erfahrungen mit Herrn F. ein. Es darf emotional werden: „Ich geh nicht mehr in die Wohnung von ihm. Es ekelt mich!”, sagt der Bezugsbegleiter mit erhobener Stimme. Das musste raus. Der Ethiker achtet darauf, dass alle zu Wort kommen. „In einem zweiten Schritt kommen wir zu den ethischen Prinzipien”, leitet der Ethiker den Hauptteil der EFB ein: „Das Autonomieprinzip fragt danach, wie selbstbestimmt oder autonomiefähig Herr F. ist. Können Sie uns dazu aus fachlicher Sicht etwas sagen?”, fragt er den Psychologen. „Herr F. hat eine leichte geistige Behinderung”, beginnt der. „Seine Wünsche äußert er lautstark und situativ, ohne dass er dabei mittelfristige oder langfristige Folgen berücksichtigen kann. Meistens geht es dabei um unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, zum Beispiel will er, dass man ihm Süßigkeiten vom Supermarkt mitbringt und solche Dinge.” „Seine Wünsche sind oft von Verlustängsten bestimmt.”, legt der pädagogische Fachdienst Schwerpunkt 37
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