Mediathek der Stiftung Liebenau
Aufrufe
vor 4 Jahren

Jahresbericht 2018 der Stiftung Liebenau

  • Text
  • Bewohnerinnen
  • Bewohner
  • Einrichtungen
  • Geist
  • Arbeit
  • Angebote
  • Mitarbeiter
  • Mitarbeiterinnen
  • Leistungen
  • Menschen
  • Stiftung
  • Liebenau

Impuls Wie Jesus leben

Impuls Wie Jesus leben lernte Gedanken der Barmherzigkeit. Ich wusste gar nicht, dass es diese Gedanken überhaupt gab. Ich kannte sie nicht, auch nicht in meiner Kindheit. Dort gab es nur Gehorsam und Angst. Angst zu versagen. Angst, den Erwartungen nicht zu entsprechen. Was Verantwortung hieß, das lernten wir schnell, und Pflichterfüllung. Mir hat die Liebe damals nicht gefehlt. Ich kannte sie nicht. Also fehlte sie auch nicht in meinen Gedanken. Uns wurde der Gehorsam eingeprügelt und das Gefühl, verantwortlich zu sein. Praktisch für alles. Schon früh waren meine Gedanken auf der Suche. Dafür also sollte das Leben geschenkt sein, um zu erfüllen, was andere sich für mich ausgedacht hatten. Dass dies nicht mein Leben war, wusste ich schnell. Aber so schnell findet sich kein neues Leben. Also lief ich davon. Damals, als ich zwölf Jahre alt war, lief ich davon. Warum in den Tempel? Vielleicht war es nur Zufall, vielleicht ein wenig Schicksal, oder einfach nur ein guter Ort, um Fragen zu stellen. Denn die hatte ich. Fragen über Fragen. Wenn das Leben ein Geschenk sei, warum musste ich es mit Leistung beantworten. Ist ein Geschenk, das meiner Gegenleistung bedarf, dann überhaupt noch ein Geschenk von Wert? Ist es nicht vielmehr ein Geschäft. Ja, so habe ich es lange Zeit empfunden. Das Leben ist ein Geschäft. Im Angebot: Verpflichtungen, Leistungen, Gebote und Normen, Moral im Überfluss. Und ständig gibt es einen hinter die Backen, wenn du nicht einlöst, was andere in dich investiert haben. Also bin ich eine Investition? Ja, das kommt schon hin. Ich bin eine Investition in die Zukunft. Denn eines Tages werde ich zurückzahlen müssen, was man mir einst mit auf den Weg gegeben hat. Und ich werde sie zurückgeben, dachte ich. Jede Ohrfeige werde ich zurückgeben, mit Dank und Zinseszins. Aber die Fragen blieben. Ist Gott auch so einer? Einer der immer nur fordert und zurückzahlt: jeden Fehler, jede Entgleisung. Ist Gott auch einer, der Geschäfte macht mit Moral und Gehorsam. Dann aber will ich nicht geboren sein. Das Dumme aber war, ich bin geboren. Alles wehrt sich bei dem Gedanken, dass das jetzt alles war und noch dazu bis ins hohe Alter. Im Tempel waren sie aufgereiht, die Wechsler und Geldzähler. Es stanken zum Himmel: die geschlachteten Tiere, die brennenden Opfer, die gescheiterten Gesetze, die erzwungene Demut, die gekaufte Treue. Ich lehne dich ab, mein Gott. Das ist meine Antwort! Ich lehne diese erkaufte Welt ab. Ich will nicht Teil einer korrupten Religion sein und einer geschundenen Welt, die die Gedanken der Barmherzigkeit nicht mehr kennt. Als sie mich aus dem Tempel rissen, Maria, die aus Nazaret, und Josef, der aus Nazaret, und sie mir mit einer Backpfeife begleitet meinen Platz zuwiesen in den Reihen der Pilger, gingen wir schweigend heim. Was auch immer das war: Heimat. Für mich waren es die Höhlen in Stein gehauen: Platz für Tiere und Menschen ohne Unterschied. Und vielleicht gab es auch keinen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Die einen wurden geschlachtet, die anderen gedemütigt. Was macht den Unterschied? Ich wollte ein kindliches Leben und eine achtsame Liebe. Und da waren sie ausgesprochen, die beiden Schüsselworte des Lebens. Ich wollte beschützt werden wie ein Kind, und Menschen beschützen. Und ich wollte eine achtsame Liebe. Eine, die man sich nicht verdienen muss. Ich wollte sie unbezahlbar. Ich wollte sie größer und freier, als sie im Leistungspaket meiner Religion beschrieben war. Dort gab es Liebe nur gegen Reue und Verzicht. Ich kannte nur die gekaufte Liebe. Zuwendung nur gegen Gehorsam. Das war nicht die Liebe, die ich in meinem Herzen fand. Schon als ich jung war, wusste ich, dass es sie gab: die Liebe als Geschenk. Freilich anfangs nur in meinen Gedanken, den fliegenden. Aber ich ahnte: Was ich mir erträumen kann, kann auch gelebt werden. Und weglaufen war zu wenig, auch das wusste ich. Also zog ich fort. Und ja, es zog mich zu den Menschen, den kleinen, schmutzigen, sündigen Menschen. Zu den Weinenden zog es mich und zu den Ungehorsamen. Ich fühlte mich wohl bei den Huren und Zöllnern, bei den Verrückten und Mutigen, den Schwächlingen und Schwätzern. Denen mit der großen 32 Impuls

Klappe und den Zärtlichen. Denen, die nach zärtlicher Berührung sich sehnten und die noch fliegen konnten, und wenn es nur in Gedanken war. Anfangs dachte ich, Johannes hätte schon eine Idee von Freiheit. Ich dachte, er würde uns fern halten vom Tempel. Und ja, er sammelte uns fernab vom Fluch des Gesetzes und wusch uns rein vom Gedanken, Leben opfern zu müssen, um es zu gewinnen. Und doch gab es in seinen Gedanken immer noch Gericht. Aber wer sollte mich richten. Ich war ein Geschenk des Himmels. Kein Gericht kann einen fliegenden Gedanken wieder einfangen. Und ich lasse das Leben nicht mehr auf den Scheiterhaufen legen oder die Opferaltäre dieser Welt. Es ist jetzt Schluss. Ich sah den geöffneten Himmel und hinter allem eine Liebe, die so viele Jahrhunderte verschossen war hinter der Macht der Priester und den Mauern des Tempels. Und ich spürte, das war immer noch in meiner Jugend: Gott schlägt mit den Fäusten, den göttlichen, von innen an die Tore des Tempels und schreit: Ich will hier raus. Gebt Gott den Menschen zurück, schrie ich. Ich wurde erwachsen und gekreuzigt – für meine Gedanken. Michael H. F. Brock Impuls 33

Hier finden Sie Impulse für den Alltag

Anstifter