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Anstifter 3, 2022 der Stiftung Liebenau

Stiftung Liebenau Vom Auftanken und Kraft schöpfen von Prälat Michael H. F. Brock Woher nehmen wir die Kraft in Zeiten immer neuer Herausforderungen und anhaltender Belastungen durch Pandemie, Krieg, Energieknappheit und Inflation? Ich kenne Menschen, die beinahe durchdrehen, andere verfallen in Depressionen und immer wieder fragen Menschen, wie man in solchen Zeiten die Ruhe behält, den Überblick und vor allem, wie man die Hoffnung nicht verliert. Ich habe keine allgemeingültigen Antworten, aber eine kleine Beobachtung aus meinem Alltag hilft mir: Ich habe seit einem Jahr ein Elektroauto und musste damit umgehen lernen, dass die Reichweite meines neuen Wagens auf circa 360 Kilometer bei 90 Prozent Ladung der Batterie begrenzt ist. Das machte mich bereits bei der ersten Fahrt nervös. Wie weit werde ich mit der Energie wirklich kommen? Finde ich rechtzeitig eine Ladestation? Habe ich genügend Zeit zum Aufladen, wenn ich dann neue Energie brauche? Anfangs stellte ich den Wagen auch mal mit 30 Prozent Energieladung in die Garage und wachte nachts auf, schaute nochmals in den Kalender mit der bangen Frage, ob die Energie wohl für den nächsten Tag reichen würde. Mit der Zeit fiel mir auf, dass Menschen mit ihrer Frage nach ausreichend Energie für den Tag vor genau denselben Fragen stehen, jeden Tag. Ist meine Lebensenergie, an Tatkraft, Lebensfreude, Hoffnung und Belastbarkeit morgens bei 90 Prozent oder starte ich den Tag bei 30 Prozent? Habe ich Augenblicke und Begegnungen, die mir Energie schenken oder brenne ich aus? Und wie kann ich eine gesunde Balance finden: Zeiten, in denen ich voller Energie umtriebig und agil sein kann und Zeiten, in denen ich zur Ruhe kommen kann, gelassener werde und auch Kraft schöpfen kann durch Menschen, die mir guttun. Ich habe bemerkt, dass es ganz verschiedene „Ladetypen“ gibt, zumindest beim Batterie aufladen. Bei meinem Auto ist es ungefähr so: Das Aufladen der Batterie von ungefähr 40 Prozent auf 80 Prozent dauert etwa zwanzig Minuten. Von 80 auf 90 Prozent nochmals zwanzig Minuten und von 90 auf 100 Prozent etwa nochmals eine Stunde. Eine Weile hat es mich geärgert, dass ausgerechnet das Laden von 90 auf 100 Prozent so unangenehm lange dauert. Bis mir die Erkenntnis kam, dass ich in meinem Leben auch nur selten mit 100 Prozent Energie arbeite und lebe. Da bin ich häufig schon mit 80 Prozent durchaus zufrieden. Da ich – wie im wirklichen Leben – bei einem Ladezustand unter 40 Prozent schon ziemlich nervös werde, habe ich mir folgende Ladestrategie zurechtgelegt: Ich lade so gut es geht meine Batterie im Wagen meist bis circa 40 Prozent auf, und in der Regel genügen mir die ersten 20 Minuten bis zum Ladezustand von 80 Prozent. Diese Zeit finde ich in der Regel auch. Das macht dann bei einer Fahrt von über 600 Kilometern ungefähr zwei bis drei kleine Pausen, die mir ohnehin guttun, anstatt bis unter 10 Prozent zu fallen und mich dann anhaltend über die Stunden zu ärgern, die ich dadurch „verliere“, um wieder auf 100 Prozent zu kommen. Ich muss ein wenig schmunzeln. Ich kenne solche Menschen auch in meinem Leben. Menschen, die ihren Energiehaushalt an Lebensenergie ständig in der Spannung zwischen null und hundert fahren. Solche Menschen empfinde ich meist als überdreht oder extrem ausgelaugt. Ich finde das anstrengend. Ich fühle mich wohl mit meiner 40/80 Strategie: nie ganz leer, nie ganz voll. Anders als die Batterie kann ich meist selbst entscheiden, wann und wie ich mehr Energie gewinne. Ich achte darauf, dass ich jeden Tag auftanken und Kraft schöpfen kann, durch Augenblicke und Menschen, die mir guttun. 6 anstifter 3 | 2022

Stiftung Liebenau Für gesellschaftliche Verantwortung Stiftung Liebenau begrüßt Debatte über soziale Dienstpflicht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier regte Mitte Juni an, eine öffentliche Debatte über die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes für junge Menschen in Deutschland zu führen. Die Stiftung Liebenau unterstützt diesen Gedanken. Kernanliegen des Staatsoberhaupts ist, dass ein entsprechender Pflichtdienst für junge Menschen einen Beitrag zur Stärkung des Gemeinwesens leisten kann. Sich für eine bestimmte Zeit in den Dienst der Gesellschaft zu stellen – zum Beispiel im Pflegebereich oder in Einrichtungen für Menschen mit Assistenzbedarf – helfe, Vorurteile abzubauen und den Gemeinsinn zu stärken. Die Gelegenheit für einen solchen Vorstoß zu nutzen, das halten auch die Verantwortlichen der Stiftung Liebenau für eine gute Idee – in zweierlei Hinsicht. Als zivilgesellschaftlichem Akteur ist der Stiftung Liebenau zum einen die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Sinne des Leitgedankens Freiheit in Verantwortung ein wichtiges Anliegen: Zum Wert der Freiheit des Individuums in der Gesellschaft gehört ein Bewusstsein für eine gleichzeitige Verantwortung jedes einzelnen Menschen für das Gemeinwesen. Zum anderen kann eine soziale Dienstpflicht für junge Menschen einen Beitrag leisten, den dramatischen Fachkräftemangel in Einrichtungen und Diensten der sozialen Arbeit zumindest teilweise zu entschärfen. Gerade unter dem Brennglas Corona hat sich die bereits vor der Pandemie angespannte Fachkräftesituation nochmals besorgniserregend zugespitzt. Eine Unterstützung im Sozialbereich für eine bestimmte Zeit kann nicht nur helfen, soziale Kompetenzen zu entwickeln, vielmehr wird soziales Engagement so zu einem Teil der Ausbildung sowie der Persönlichkeitsentwicklung zwischen Schule, Ausbildung, Studium und Berufseinstieg. In der Pflege gewonnene Erfahrungen im Dienst am Nächsten können hilfreiche persönliche Lernerfahrungen mit Blick auf künftige, familiäre Sorgearbeit sein. Finanzierung sicherstellen Darüber hinaus kann ein Einsatz im Rahmen einer sozialen Pflichtzeit dazu führen, dass junge Menschen sich nach dieser Erfahrung für eine weitergehende Tätigkeit im Sozialbereich entscheiden. Der 2011 abgeschaffte Zivildienst hatte diesen Gewinn für junge Menschen und für die Gesellschaft: Die Stiftung Liebenau befürwortet eine Dienstpflicht im sozialen und ökologischen Bereich. Der Zivildienst hatte einen Magneteffekt bei jungen Männern, ein berufliches Ziel im Sozialbereich zu sehen. Magneteffekt in vielen Fällen, insbesondere bei jungen Männern, die bis zu ihrem Zivildienst eine Tätigkeit im Sozialbereich überhaupt nicht als berufliches Ziel gesehen hatten. In der grundsätzlichen Debatte über eine neue soziale Pflichtzeit für junge Menschen muss geklärt werden, wie die Zivildienst-Nachfolgeprogramme, wie Freiwilliges Soziales Jahr, Freiwilliges Ökologisches Jahr oder der Bundesfreiwilligendienst einbezogen werden können. Zudem braucht eine soziale Dienstpflicht eine adäquate Honorierung, um attraktiv zu sein. (ud) anstifter 3 | 2022 7

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