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Anstifter 3, 2018 der Stiftung Liebenau

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Der Anstifter ist die Hauszeitschrift der Stiftung Liebenau mit Themen aus den Bereichen Bildung, Familie, Gesundheit, Lebensräume, Pflege, Service und Teilhabe.

Schwerpunkt Menschen mit

Schwerpunkt Menschen mit Behinderungen – medizinisch gut versorgt? Ein Gespräch mit Irmgard Möhrle-Schmäh, Geschäftsführerin Liebenau Kliniken Frau Möhrle-Schmäh, wohin gehen Menschen mit Behinderungen, wenn sie krank werden? Das hängt davon ab, wo sie leben. Wenn sie in einer eigenen Wohnung oder bei ihrer Familie leben, werden sie zunächst mal zum Hausarzt gehen, dann eventuell zu einem Facharzt oder ins Krankenhaus. Genauso wie Menschen ohne Behinderungen. Wenn sie bei uns in einer stationären Einrichtung leben, werden sie von unserer allgemeinmedizinischen Ambulanz betreut. Kinder mit Behinderungen können außerdem in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) betreut werden. Nach Ihren Erfahrungen: Können sie im Regelsystem gut versorgt werden? In vielen Fällen sicher. Aber das System kommt auch häufig an Grenzen. Viele Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, waren zuvor schon an mehreren anderen Stationen. Dort konnten sie eben nicht angemessen versorgt werden. Oft gelingt es ihnen schon mal nicht, sich an die Abläufe in einer niedergelassenen Praxis anzupassen: Jemand erträgt zum Beispiel das Sitzen im Wartezimmer nicht. Oder weigert sich, Kleider abzulegen für eine Untersuchung. Oder – was sehr häufig ist – die sprachliche Verständigung klappt nicht. Noch schwieriger wird das bei einem stationären Aufenthalt, wenn mehrere Personen ein Zimmer teilen und wenn man sich der Zeittaktung im Krankenhaus unterordnen muss. In unserem Gesundheitssystem haben wir viele Spezialistinnen und Spezialisten. Das ist einerseits gut so, weil viel Fachwissen da ist. Es führt aber auch dazu, dass jeder nur seinen jeweils speziellen fachlichen Blick für die Kranken hat. Das wird zum Problem, weil unsere Patienten häufig mehrere Diagnosen haben oder die Symptome nicht klar zuzuordnen sind. Wenn zum Beispiel ein Patient über einen längeren Zeitraum unerklärlich aggressives Verhalten zeigt, wird das möglicherweise zu einer psychiatrischen Diagnose führen. Möglicherweise verhält er sich aber nur so, weil ihn unklare Schmerzen quälen. Und das auffällige Verhalten wäre zu Ende, wenn die Schmerzursache behoben ist. Und was ist in Ihren Einrichtungen anders? Vor allem haben wir einen anderen Blick. Wir betrachten die Patientinnen und Patienten aus unterschiedlichen Perspektiven. Menschen verschiedener Berufsgruppen arbeiten zusammen, Diagnostik und Therapie umfassen somatische und psychiatrische Aspekte. Die langjährige Erfahrung – unser Krankenhaus gibt es schon seit 45 Jahren – hat dazu geführt, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr routiniert sind in der Kommunikation mit Menschen mit geistigen Behinderungen. Auch unsere Räume und deren Ausstattung richten sich nach unseren besonderen Patienten. Und wir können sie, wenn nötig, in unseren Ambulanzen und der neuen Tagesklinik begleiten. 14 anstifter 3 | 2018

Schwerpunkt Der Grundgedanke der interdisziplinären Zusammenarbeit reicht über unsere Türschwelle hinaus. Mit dem Krankenhaus Tettnang besteht eine langjährige Kooperation – Patienten werden dort operiert, bei uns nachbetreut. Mit Facharztpraxen arbeiten wir ebenso eng zusammen wie mit Beratungsstellen, Sozialpädiatrischen Zentren und natürlich mit Angehörigen und Betreuungspersonen der Patienten. Irmgard Möhrle-Schmäh, Geschäftsführerin Liebenau Kliniken. Reicht das Leistungsspektrum aus? Was bräuchten Patienten beziehungsweise Angehörige noch? Wir haben gemeinsam mit anderen Trägern lange dafür gekämpft, dass eine ganzheitliche Versorgung, wie wir sie stationär bieten, auch ambulant möglich wird. Für Kinder und Jugendliche gibt es die schon erwähnten Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) als Anlaufstellen. Mit dem Erwachsenenalter endete bisher diese Leistung, und den Betroffenen blieb erstmal nur das System der Regelversorgung, mit den genannten Problemen. Auf politischer Ebene hat man schon vor drei Jahren reagiert und den gesetzlichen Rahmen geschaffen für so genannte MZEB – Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen. Hier können Menschen behandelt werden, die wegen der Art, Schwere oder Komplexität ihrer Behinderungen, vor allem auch wegen einer eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit, auf die ambulante Behandlung in diesen Einrichtungen angewiesen sind. Die Umsetzung läuft allerdings nur sehr zögerlich und von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Erfreulicherweise konnten wir nach langen Verhandlungen mit den Krankenkassen jetzt endlich eine Vereinbarung treffen, und wenn letzte Details geklärt sind, können wir in absehbarer Zeit mit unserem MZEB starten. Worin besteht dann die besondere Leistung? Das MZEB setzt das System der SPZ fort. Beteiligt sind verschiedene Berufsgruppen, die den ganzheitlichen Blick im ambulanten Bereich behalten. Sie beziehen alle anderen Beteiligten – behandelnde Ärzte, Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes – mit ein und fungieren in gewisser Weise als „Lotsen“, die nach einer spezialisierten Diagnostik einen umfassenden Behandlungsplan erstellen und, wenn nötig, weitere fachärztliche Leistungen koordinieren. Bei uns sind Kolleginnen und Kollegen aus Medizin, Psychologie, Physio- und Ergotherapie, Pädagogik und Pflege beteiligt, und alle nötigen diagnostischen und therapeutischen Einrichtungen stehen innerhalb der St. Lukas-Klinik zur Verfügung. Ziel der Behandlung ist, dass die Betroffenen im gewohnten Lebensumfeld bleiben können. So unterstützt das MZEB Inklusion und Teilhabe. Stichwort Inklusion: Wäre es nicht besser, das Gesundheitswesen käme ohne solche besonderen Einrichtungen aus? Was heißt besser? Genauso könnten Sie sagen, es wäre besser, wenn alle Krankheiten in der Hausarztpraxis behandelt werden könnten. In speziellen Lebenssituationen sind wir doch froh über spezialisierte Angebote. Denken Sie an Schlaganfall-Patienten oder an die Frühchenversorgung. Die hohe fachliche Qualität unseres Gesundheitssystems wird ja gerade durch solche medizinischen Schwerpunkte gewährleistet. Wirtschaftlich wäre es gar nicht zu realisieren, wenn jedes Krankenhaus alle Experten und alle Apparate vorhalten wollte. Unser Krankenhaus als Spezialkrankenhaus für Menschen mit Behinderungen ist ein Beitrag zur Qualität des gesamten Systems. Wohin geht die Entwicklung im Gesundheitsbereich, speziell für Ihre besonderen Patienten? Unser Gesundheitswesen ist fachlich sehr gut, aber es hat ein großes Kostenproblem. Viele kleine Häuser der Regelversorgung müssen schließen, die Zeit für die Kranken wird immer knapper. Damit wird die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten im Regelsystem natürlich immer schwieriger. Erfreulicherweise sieht die Politik aber den Bedarf für spezialisierte Leistungen, wie wir sie erbringen. Generell drücken im Gesundheitswesen momentan auch Personalfragen. In der St. Lukas-Klinik spüren wir das zum Glück noch nicht so stark, wir sind gut besetzt, mit sehr motivierten und kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Viele sind schon sehr lange bei uns – und das, obwohl die Arbeit mit unseren besonderen Patienten den Einzelnen viel abverlangt. Aber die Arbeit wird eben auch als besonders sinnstiftend erlebt, und sie entscheiden sich explizit dafür. anstifter 3 | 2018 15

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