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Anstifter 3, 2016 der Stiftung Liebenau

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Der Anstifter ist die Hauszeitschrift der Stiftung Liebenau mit Themen aus den Bereichen Pflege, Teilhabe, Bildung, Gesundheit, Familie und Service.

„Es gibt selten den

„Es gibt selten den einen richtigen Weg“ Verena Bentele setzt sich für Gleichstellung und Teilhabe ein von Heike Schiller BERLIN – Verena Bentele ist die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Sie hat mich nach Berlin eingeladen, um aus den Biografischen Begegnungen mit Norbert Hubert (Vorstand der Stiftung Liebenau von 1968-1996) vorzulesen, weil dieses Buch weder als Hörbuch noch in Blindenschrift erschienen ist. Tags zuvor hat das Bundeskabinett das Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen auf den Weg gebracht, und Verena Bentele ist besonders an diesem Tag eine gefragte Gesprächspartnerin. Sie will sich dennoch die Zeit nehmen, zu erfahren, was zu den Fragen, die das Gesetz behandelt, lange vor ihrer Zeit in der Stiftung Liebenau bereits gedacht und auf den Weg gebracht wurde. Wer das Büro von Verena Bentele im Kleisthaus in Berlin-Mitte betritt, dem sticht zuerst ein Porträt ins Auge. „Die Mütter des Grundgesetzes“ hat sich die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen bei ihrem Amtsantritt im Januar 2014 ausgesucht. Eine Botschaft, die mehr als Symbolcharakter hat. Gegen den anfangs heftigen Widerstand der 61 Männer des Parlamentarischen Rates, der 1948 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitete, setzten die SPD-Politikerinnen Elisabeth Selber und Frieda Nadig, Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrumspartei) Artikel 3 Absatz 2 durch: „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“. Verena Bentele findet, man könne nicht genug darauf hinweisen, wie wichtig dieser Artikel sei. Er zeigt vor allem, dass sich eine gemeinsame Anstrengung für die Durchsetzung von Rechten lohnt. 1994 wurde dem Grundgesetz ein weiterer wichtiger Artikel hinzugefügt: Kein Mensch darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. „Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Teilhabe, ohne Einschränkung. Das muss für eine Gesellschaft selbstverständlich sein, ohne wenn und aber.“ Dies zu vermitteln, darin sieht die erste Behindertenbeauftragte im Bund, die auch als Betroffene sprechen und überzeugen kann, eine ihrer Hauptaufgaben, die eine Querschnittsaufgabe über alle politischen Ressorts und nicht auf den Sozial- und Gesundheitsbereich beschränkt sei. Hier sei der Verkehrsminister ebenso in der Verantwortung wie die Kultusministerien der Länder. Beim Lesen der Aussagen, die Norbert Huber bereits vor über 40 Jahren programmatisch behandelt und als Forderungen an die Politik formuliert hat, lacht Verena Bentele manchmal und stellt fest: Vieles davon sei natürlich längst Lebensrealität, aber – jetzt ernster – sie findet, so richtig angekommen seien die Rechte behinderter Menschen noch immer nicht, weder in der Gesellschaft noch in der Politik. Das Bundesteilhabegesetz, in dessen Kern es darum geht, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderungen zu garantieren und sie gleichzustellen, ist seit Jahrzehnten eine Forderung der Verbände, die nun Realität werden soll. „Mit diesem Gesetz wird ein Systemwechsel einhergehen: Die großen, gewachsenen Strukturen werden sich ändern. Weil es aber kosten-, personal- und zeitintensiv ist, muss es gut gestaltet werden. Ein harter Brocken ist das. Aber ich bin glücklich, daran mitarbeiten zu dürfen“, sagt Verena Bentele. Als Beauftragte kann Verena Bentele mit ihrem Stab keine eigenen Gesetzentwürfe einbringen. Sie kann aber kommentieren, kritisieren und Stellungnahmen 12 Stiftung Liebenau

Verena Bentele, Beaufragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, umrahmt von den „Mütterndes Grundgesetzes.“ Foto: Schiller abgeben. Öffentlich und in den Gremien der Politik. Mit ihr haben Menschen mit Behinderungen eine kräftige Stimme. Dabei stellt sie fest: „Es gibt ganz selten den einen richtigen Weg.“ Das mache es nicht leicht, allen gerecht zu werden. „Wir wollen, dass niemand schlechter gestellt wird, sondern alle gleichermaßen aktiv und selbstständig am Leben und Arbeiten teilhaben können.“ So ist Verena Bentele auch eine Verfechterin der Idee, dass alle Kinder gemeinsam in die Schule gehen können. Ihre eigene Lebenserfahrung lässt das zwingend erscheinen, auch wenn sie durchaus die gute Förderung wertschätzt, die sie selbst erfahren hat. „Ich bin mit sechs Jahren in ein Internat für Blinde im Schwarzwald gekommen. Eines ist sicher: Die Förderung dort war extrem gut. Judo, Reiten, Leichtathletik. Das waren tolle Möglichkeiten. Aber es war schlimm, dass ich nicht bei meiner Familie sein konnte.“ Alle wollten nur das Beste für sie und sie hat das Beste daraus gemacht. Aber sie glaubt daran, dass nur das gemeinsame Lernen zu einem Miteinander ohne Vorbehalte aller Menschen führen kann. Sie weiß, wie schwierig das ist. Nur ein Beispiel: Die Infrastruktur auf dem Land. Verena Bentele ist in Tettnang aufgewachsen und weiß, wovon sie spricht: „Hier braucht jeder ein Auto, weil der öffentliche Nahverkehr und das Taxigewerbe nur eine sehr eingeschränkte Mobilität erlauben. Ob Freundinnen besuchen, in die Schule gehen oder zum Arbeitsplatz kommen – wie soll ich da leben? Immer muss ich um Hilfe bitten. In meinem Umfeld helfen alle gerne. Aber...“ Für Verena Bentele wäre das selbstfahrende Auto ein Stück mehr Freiheit. Nicht nur deshalb lebt sie in München und in Berlin. „Hier hole ich mir manchmal blaue Flecken weil ich renne und gegen Hindernisse laufe, aber ich kann mich selbstständig bewegen.“ Als Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Verena Bentele Ende 2013 anrief und fragte, ob sie sich vorstellen könnte, die Aufgabe der Behindertenbeauftragten zu übernehmen, da stand die heute 34-jährige Wahl-Münchnerin, 12-fache Biathlon-Goldmedaillengewinnern bei den Paralympics, Bambipreisträgerin, studierte Literaturwissenschaftlerin und Pädagogin bereits auf der Liste der Münchener SPD zur Kommunalwahl 2014. Sie erzielte das viertbeste Ergebnis und wollte gerne dieses Ehrenamt ausfüllen, nicht nur, um ihre Wählerschaft nicht zu enttäuschen. Sie hat dennoch losgelassen. Für Menschen mit Behinderungen ist Verena Bentele in der Bundespolitik ein Glücksfall. Heike Schiller las Verena Bentele vor aus ihrem Buch „Zugewandt“, Norbert Huber – Direktor und Vorstand der Stiftung Liebenau 1968 - 1996; 2016; ISBN 978-3-7841-2902-0 Stiftung Liebenau 13

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