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Anstifter 2, 2020 der Stiftung Liebenau

Der Anstifter ist die Hauszeitschrift der Stiftung Liebenau mit Themen aus den Bereichen Bildung, Familie, Gesundheit, Pflege und Lebensräume, Service und Produkte sowie Teilhabe.

Schwerpunkt Nicht zum

Schwerpunkt Nicht zum Nulltarif! Mit Gerold Abrahamczik sind Angehörige in Sachen Bundesteilhabegesetz gut beraten. Doch aktuell sind viele Fragen rund um die Corona-Pandemie brennender für sie als das neue Gesetz. Wie schätzen Angehörige das Bundesteilhabegesetz und seine Umsetzung ein und was ändert sich für sie? Antworten auf diese Fragen weiß Gerold Abrahamczik, Sprecher des Beirats der Angehörigen beim Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP). Der gewählte Beirat vertritt Angehörige von rund 200 000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Auch wenn der Systemwechsel noch dauern wird, rät Abrahamczik den Angehörigen, sich weiterhin gut vorzubereiten. Er und sein Gremium hätten Betroffene, Angehörige, Betreuer das gesamte vergangene Jahr auf den Systemwechsel aufmerksam gemacht und sie gedrängt, sich frühzeitig mit der Bedarfsermittlung auseinanderzusetzen. In den Gesprächen würde man Fachleuten gegenübersitzen, man sei womöglich aufgeregt und unsicher. Was dann nicht erwähnt wurde, dafür wird keine Leistung erbracht. Die gute Vorbereitung hilft. Da zum 1. Januar jetzt noch keine Bedarfsermittlungen nach den neuen Regeln durchgeführt wurden, hat er Sorge, dass Angehörige jetzt lockerlassen. Er rät: „Kaufen Sie sich eine Kladde und notieren Sie sich alles, was Ihnen bezogen auf die betreute Person einfällt, wie deren Lebensumstände sind, welche Unterstützung geleistet wird, vielleicht zusätzlich nötig ist, wie die Betreuten ihre Freizeit verbringen wollen, und, und, und.“ Die Angst vieler Eltern, dass es ihrem Kind schlechter gehen wird, ist nicht zu unterschätzen. Das BTHG sei auch an den Start gegangen, die Kostendynamik der Eingliederungshilfe zu brechen. Menschen, die gut für sich sprechen können, erwirken ihre Leistungen, ist Abrahamczik sich sicher. Dafür müsse dann an anderer Stelle gespart werden. Es gibt Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen, die sich nicht für sich selbst einsetzen können. Manche Eltern sind 70 oder 80 Jahre alt. Die haben sich einmal schweren Herzens durchgerungen, ihr Kind in eine Einrichtung zu geben, wo sie es gut betreut wissen. Sie hatten dadurch die Sicherheit, dass ihr Kind einen Platz hat, auch wenn sie selbst nicht mehr da sind. Mit dem BTHG fällt ihnen das Thema der Beantragung von Leistungen und der Bedarfsermittlung wieder vor die Füße, und sie haben Angst, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können, so der Angehörigenverteter. „Ich kenne Angehörige, die sich überlegen, die gesetzliche Betreuung abzugeben." Das könne aber nicht im Sinne des BTHG sein. Insgesamt braucht Personenzentrierung mehr Geld. „Es gibt sie nicht zum Nulltarif!“ Abrahamczik beobachtet teilweise, dass es im stationären Wohnen am Wochenende teilweise Probleme mit der Teilhabe gibt. Er nennt ein Beispiel: eine Gruppe mit acht Bewohnern, mehrere davon im Rollstuhl, einige mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Die fitteren Bewohnerinnen und Bewohner leben heute in Wohnformen mit ambulanter Begleitung. Das Personal in den Wohngruppen werde aber aus Kostenerwägungen vielfach nicht den gestiegenen Anforderungen an Begleitung und Betreuung angepasst. Am Wochenende sind womöglich nur zwei Mitarbeiter im Dienst. Wenn außer ihnen keiner da ist, der einen Rollstuhl schieben kann, fällt der Ausflug für die ganze Wohngruppe aus. Durch den neuen Ansatz der Personenzentrierung und der damit verbundenen persönlichen, individuellen Leistungserbringung erhofft er sich für viele Angehörige erhebliche Verbesserungen. Positiv bewertet Abrahamczik, dass andere Anbieter die Lücke füllen können, wenn eine Einrichtung persönliche Bedarfe nicht leisten kann. So entsteht für die Menschen mit Behinderungen Vielfalt und Wahlmöglichkeit in der Leistungserbringung. Und es wird eine gewisse Konkurrenz am Markt entstehen. (ao) 16 anstifter 2 | 2020

Schwerpunkt Traditionell gelebte Gleichstellung Das Vorarlberger Chancengesetz setzt Maßstäbe Als Mitglied der Europäischen Union setzt sich Österreich aktiv für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein. Dabei erfüllt Vorarlberg mit seinem Chancengesetz eine Vorreiter- und Vorbildfunktion: Es wurde am 10. Mai 2006 beschlossen, um die traditionell gelebte Selbstbestimmung und Teilhabe auch gesetzlich widerzuspiegeln. Dabei haben sich Menschen mit Behinderungen erstmals aktiv an der Ausarbeitung eines solchen Gesetzes beteiligt und ihm auch seinen Namen gegeben. Dr. Gabriele Nußbaumer, ehemalige Landtagsvizepräsidentin, ehemalige Präsidentin der Lebenshilfe Vorarlberg und seit 2015 Aufsichtsratsmitglied der Stiftung Liebenau, berichtet. Zehn Jahre später sind auf deutscher Seite bei der Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes und seiner schrittweisen Umsetzung ebenfalls Menschen mit Behinderungen beteiligt. Kann oder soll man die beiden Gesetze nun vergleichen? Wie gelingt der Blick über die Grenze? „Die Grundsätze und Ziele, kurz, die Trennung von Arbeit und Wohnen sowie die größtmögliche Selbstbestimmung, sind dieselben“, sagt Dr. Gabriele Nußbaumer. Sie kennt aus ihren früheren und aktuellen Funktionenen die Entwicklungen in beiden Ländern gut und weiß: „Interessanter ist es, einen Blick auf die historisch gewachsenen Unterschiede zu werfen.“ Wohnhäuser statt Heime Denn: In Vorarlberg gab und gibt es – im Gegensatz zu Deutschland oder anderen österreichischen Bundesländern – keine größeren Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. „Die Lebenshilfe Vorarlberg hätte die Möglichkeit zum Bau von Großeinrichtungen gehabt. Doch der Interessensverein, der sich damals insbesondere aus Eltern zusammensetzte, hat dies bewusst verhindert, damit Menschen mit Behinderungen in ihrem sozialen Umfeld sichtbar bleiben“, erklärt Dr. Gabriele Nußbaumer, selbst Angehörige. So wurden in Vorarlberg nie Heime gebaut, sondern Wohnhäuser für zehn bis 15, maximal 20 Menschen mit Behinderungen. Von Anfang an galt außerdem das Zwei-Milieu-Prinzip: Niemand sollte im gleichen Milieu arbeiten und wohnen, weil eine Distanz zwischen Gleichstellung in Österreich und Deutschland: Aufsichtsratsmitglied Dr. Gabriele Nußbaumer kennt die Unterschiede. den Lebenswelten normal ist und guttut, weil sie neue Kontakte und Erfahrungen bringt. „Menschen mit Behinderungen sind in Vorarlberg nie aus dem öffentlichen Leben, dem familiären Alltag verschwunden“, sagt Dr. Gabriele Nußbaumer. Weiter auf dem Weg zur Inklusion Das in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen erarbeitete Vorarlberger Chancengesetz wurde zum Vorbild für andere österreichische Bundesländer. Doch auch in Vorarlberg arbeiten die Verantwortlichen weiterhin daran, der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden. „Trotz der traditionell gelebten Gleichstellung und der kleineren Einrichtungen gibt es auch in Vorarlberg noch genug Entwicklungspotenzial auf dem Weg zur Inklusion“, weiß Nußbaumer. „In Vorarlberg ebenso wie in ganz Österreich und Deutschland müssen Konzepte überarbeitet und Bauten umgewandelt werden, damit Menschen mit Behinderungen gleichgestellt am Wohnen, Arbeiten und an der Freizeitgestaltung teilhaben können. Als sehr konsequent empfinde ich da die Stiftung Liebenau. Denn ich spüre deutlich, dass sie für größtmögliche Selbstbestimmung sorgt und bei ihren Entscheidungen tatsächlich der Mensch im Mittelpunkt steht.“ (ebe) anstifter 2 | 2020 17

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