Schwerpunkt ICF – eine gemeinsame Sprache Wie die Stiftung Liebenau ihre Mitarbeitenden schult Dr. Stefan Thelemann leitet am Berufsbildungswerk Adolf Aich das ICF-Kompetenzzentrum. Zu den vielen Auflagen und Neuerungen, die das BTHG mit sich bringt, gehört die Anwendung der sogenannten ICF als Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (siehe dazu auch S. 11). Ab diesem Jahr bietet die Stiftung Liebenau hierzu mehrere Fortbildungen an. Dr. Stefan Thelemann, Psychotherapeut und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Leiter des ICF-Kompetenzzentrums Liebenau am Berufsbildungswerk Adolf Aich (BBW), ist maßgeblich für die Schulungen verantwortlich. Dr. Thelemann spricht von etwa 5000 bis 6000 Mitarbeitenden, die an der Bedarfsplanung für die Klienten in der beruflichen Bildung, der Teilhabe, Pflege und Jugendhilfe mitwirken und deshalb geschult werden müssen. „Wir brauchen einen breiten Konsens in der Anwendung der ICF“, begründet er. Im BBW befasst man sich bereits seit rund 15 Jahren mit der ICF und insbesondere mit dem Bio-Psycho-Sozialen Modell (BPSM) als wesentlicher Grundlage. Aufgrund dieser Erfahrungen ist das ICF-Kompetenzzentrum der Stiftung Liebenau auch im BBW verankert. Neu für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist, dass sie ein gemeinsames Verständnis des BPSM entwickeln und eine gemeinsame Sprache sprechen und denken lernen. Dr. Thelemann: „Bisher war die Basis in der Bedarfsplanung eher subjektiv geprägt, ohne eine entsprechende Leitlinie. Das ist nicht wertend gemeint, aber durch die Summe der Einschätzungen aller Beteiligten bekommen wir mit der Anwendung des BPSM ein differenzierteres Verständnis. Dies ist die Grundlage für eine gute Planung für unsere Klienten. Mit der ICF haben die Mitarbeitenden ein besseres Fundament für unsere Unterstützungsleistungen und -empfehlungen. Das wird sie zukünftig auch entlasten.“ Da die ICF ja nicht die Defizite eines Menschen in den Vordergrund stellt, sondern die Umweltfaktoren und ihre Anpassungen in den Fokus nimmt, liegen hier viele Gestaltungsmöglichkeiten für Mitarbeitende und Leistungsträger. So kann für einen gehörlosen Menschen beispielsweise ein Computer das optimale Hilfsmittel sein. Für jemanden, der stark auf Umgebungsgeräusche reagiert, wäre ein Großraumbüro nicht der richtige Arbeitsplatz. „Es geht darum, dass Barrieren soweit wie möglich abgebaut werden“, fasst Dr. Thelemann zusammen. „Und da sind die Mitarbeitenden an der Basis am meisten gefragt, und es braucht Leitungskräfte, die sie dabei unterstützen und Barrieren abbauen helfen.“ Die Aufgabe der Schulung bleibt eine dauerhafte. In der akademischen Ausbildung, etwa bei Ärzten oder den sozialen Studiengängen, wird die ICF inzwischen berücksichtigt und verstärkt gelehrt. Der praktische Bezug und die Umsetzung fehlen jedoch. „In der Stiftung Liebenau wird es Jahre dauern, bis wirklich alle geschult sind“, so der Fachmann. Für die Stiftung Liebenau wird die Schulung wohl eine Daueraufgabe sein. „Auch wenn wir Kurzschulungen anbieten, stehen wir vor der Herausforderung, dass das erworbene Wissen gefestigt und nachgeschult werden muss.“ (sdg) Die neun Lebensbereiche nach der ICF 1. Lernen und Wissensanwendung 2. Allgemeine Anforderungen und Aufgaben 3. Kommunikation 4. Mobilität 5. Selbstversorgung 6. Häusliches Leben 7. Interpersonelle Interaktion und Beziehungen 8. Bedeutende Lebensbereiche 9. Gesellschaft 12 anstifter 2 | 2020
Stiftung Liebenau Selbstständigkeit erwünscht! Axel Weigele ist Experte, wenn es um die praktische Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) geht. Er ist einer der 31 Klienten im Bodenseekreis, die an einem von 29 Modellprojekten im Bundesgebiet mitwirken. Bis Ende 2021 sollen auf diese Weise praktische Erkenntnisse rund um das neue Gesetz gewonnen werden. Auch der Bodenseekreis beteiligt sich zusammen mit der Stiftung Liebenau. Es ist offensichtlich: Wer in dieser Wohnung wohnt, wohnt gern hier. Die helle geräumige Einzimmerwohnung ist gepflegt und aufgeräumt, aber auch gemütlich und wohnlich. Alles ist vorhanden, Küchenzeile und Bad inklusive. Vor dem großen Fenster befindet sich nach Süden hin der Balkon. Das Appartement ist das Reich von Axel Weigele. Seit fünf Jahren lebt der Mann mit Down-Syndrom hier. Seit Anfang dieses Jahres und mit Inkrafttreten des BTHG ist er selbst auch Mieter. Die Wohnung befindet sich im Wohnhaus für Menschen mit Handicaps in Markdorf. Von hier aus macht sich der 32-Jährige jeden Tag auf zur Arbeit in die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM), ebenfalls in Markdorf. Durch das BTHG könnte sich für ihn manches ändern. Das Gesetz setzt auf das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Einschränkungen. die Wünsche des gebürtigen Markdorfers hören sich überraschend einfach an: „Dass ich meine Wäsche selbstständig waschen darf“ und „Unterstützung im Haushalt“. Manche Pflichten im Haushalt würde er gerne mit Hilfe einer Person gemeinsam erfüllen. „Ich kann nicht einkaufen und putzen gleichzeitig,“ sagt er. In manchen Zeiten werde ihm alles zusammen zu viel. Grundlage für die künftigen Leistungen ist das Bedarfsermittlungsgespräch mit dem neuen Bedarfsermittlungsinstrument BEI-BW. Dieses wurde auch im Rahmen des Modellprojekts im Bodenseekreis getestet. Bei Axel Weigele liegt das Gespräch etwa ein Jahr zurück. Seine Mutter Andrea Weigele als seine gesetzliche Betreuerin begleitete ihn. Mit am Tisch saßen die Vertreterin des Landratsamtes als Leistungsträger, die das Gespräch durchgeführt hat, sowie eine Fachkraft der Pflegekasse, bei der Weigele Pflegegrad 1 bescheinigt wurde. Auch eine Vertrauensperson vom Haus war dabei. Für alle Beteiligten war die Gesprächssituation neu, erinnert sich Andrea Weigele. Den Gesprächsverlauf hat sie sehr angenehm empfunden. „Es wurde ein breites Spektrum abgefragt, es war richtig gut gemacht.“ Ihr Sohn hatte selbst die Möglichkeit zu schildern, was ihm wichtig ist. Fußball etwa, und dass er tanzen lernen möchte. Welche seiner Wünsche leistungsrechtlich schließlich erfüllt werden, ist noch unklar, weil es in Baden-Württemberg noch keine abschließende Fachleistungssystematik für Assistenzleistungen gibt. Das Modellprojekt arbeitet aber daran, eine Grundlage zu entwickeln. Die Umsetzung des BTHG und somit die Ermöglichung von teilhabendem Leben braucht verschiedene Akteure. Gefragt sind Kommunen, Vereine und andere Menschen, Nachbarn, Mitbewohner zum Beispiel. Im Haus wird Wunsch- und Wahlrecht längst so weit wie möglich gelebt: Die Fachkräfte versuchen, Wunsch-Aktivitäten durch Begleitung zu ermöglichen, ob Disco und Single-Party oder Ausflüge und Chorsingen, ist von Teamleiterin Ursula Ehrlinspiel zu erfahren. Fachkräfte wie sie werden durch das BTHG immer mehr zu Moderatoren im Gemeinwesen: Sie sind diejenigen, die Kontakte herstellen, organisieren und pflegen. Axel Weigele spielt Trompete und Flügelhorn. Zu seinem Wochenverlauf gehört deshalb eine Unterrichtsstunde in der nahegelegenen Musikschule in Markdorf. Bei der Organisation des Musikunterrichts halfen die Fachkräfte, hingehen kann er selbstständig. Bei Auftritten der Familienband „Weigele Brass Band“ spielt er selbstverständlich mit. Und dann fällt ihm noch ein Wunsch ein: Er würde gerne fest in einer Band mitspielen. Das neue Leistungsrecht sollte bei dem Wunsch hilfreich sein. Und vielleicht ein paar aktive Musiker, die ihn als Bandmitglied aufnehmen. (ao) anstifter 2 | 2020 13
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