Schwerpunkt BTHG: ein revolutionäres Gesetz Chancen und Herausforderungen Schon der offizielle Titel des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung“, macht deutlich, was das Ziel ist: die Lebenssituationen und die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben zu verbessern und zu stärken. Dieses umfassende Gesetzespaket setzt sich in allen Lebensbereichen für mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen ein und stellt den Menschen mit seinen Bedarfen und Wünschen in den Mittelpunkt. Das BTHG ist seit Beginn des Jahres 2017 in Kraft. Die damit verbundenen neuen Regelungen werden bis 2023 stufenweise umgesetzt. Die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2009 gab wichtige Impulse für das BTHG. Dort wird bereits eine gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben gefordert. Mit dem BTHG soll man diesem Ziel näherkommen. Diesem Gesetz liegt zudem ein neuer Behinderungsbegriff zu Grunde, der sich am gesellschaftlichen Verständnis einer inklusiven Gesellschaft orientiert. Das Gesundheitsproblem oder die Behinderung werden nicht mehr als Eigenschaft der Person angesehen. Es berücksichtigt auch: Wo liegen Probleme in der Umwelt des Menschen, die ihn daran hindern an der Gesellschaft teilzuhaben? „Das ist ein modernes, innovatives, fachlich-attraktives und revolutionäres Gesetz“, so Jörg Munk, Geschäftsführer der Lie- 10 anstifter 2 | 2020
Schwerpunkt benau Teilhabe, „es birgt großartige Chancen, aber auch viele Herausforderungen in sich“. Mit der Umsetzung des BTHG einher geht ein grundlegender Paradigmenwechsel, weg von einem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe hin zu einem modernen Leistungsrecht und mehr persönlicher Selbstbestimmung. Das BTHG soll Menschen mit Behinderungen durch individuelle Unterstützung die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und ein eigenständiges Leben ermöglichen. Im Mittelpunkt steht die so genannte Personenzentrierung. Die Frage für den einzelnen Menschen mit Behinderung lautet künftig: Wo und wie will ich wohnen? Wie will ich leben? Wo will ich arbeiten? Wie will ich meine Freizeit verbringen? Dafür sind eine Reihe von Veränderungen bei Abläufen und Prozessen auch innerhalb der Verwaltung nötig (s. Seite 14). Die Leistungen Fachleistungen der Eingliederungshilfe (Leistungen zur sozialen Teilhabe, zur Teilhabe an Bildung, am Arbeitsleben, zur medizinischen Rehabilitation, Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags wie therapeutische Maßnahmen oder persönliche Assistenz) werden zukünftig klar von den existenzsichernden Leistungen zum Lebensunterhalt (wie Wohnen, Ernährung, Kleidung) getrennt und finanziert. Das ist ein einschneidender Systemwechsel: Künftig entscheidet der Mensch mit Behinderungen selbst, welche Unterstützungsleistung er Der Mensch mit Behinderungen entscheidet selbst, welche Unterstützung er braucht. braucht oder bekommen möchte. Die zu erbringenden Teilhabe- beziehungsweise Fachleistungen (Assistenzleistungen) orientieren sich an dem individuellen Bedarf der jeweiligen Person unabhängig von ihrer Wohnform. Daher soll es leistungsrechtlich keine Unterscheidung mehr zwischen stationär und ambulant geben. In Zukunft muss sich also nicht mehr der Mensch mit Behinderung einem „All-Inclusive“-Paket anpassen, das dem Menschen mit Behinderungen oftmals im stationären Bereich geboten wird. Durch das BTHG müssen der Leistungs- und Kostenträger sowie die jeweilige Einrichtung auf den individuellen Bedarf der einzelnen Person eingehen. Dieser Systemwechsel stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen, vor allem zu Fragen des Fallmanagements, der Verwaltung und des stationären Bereichs. Im Endeffekt dient er aber der Transparenz und Personenzentrierung des Systems. Das sei, so Munk „ein Emanzipationsprozess für Menschen mit Behinderungen, denn sie werden die Unterstützungsleistungen erhalten, die mehr der eigenen persönlichen Lebenslage und Bedarfssituation entsprechen.“ Allerdings müssen die Betroffenen mit der Komplexität des Gesetzes aktiv umgehen können. Sie tragen damit auch deutlich mehr Eigenverantwortung für die Leistungen, die erbracht werden sollen. Der Bedarf wird festgestellt Mit Hilfe eines Gesamtplanverfahrens sollen die notwendigen unterstützenden Leistungen ermittelt werden. Am Gesamtplanverfahren ist der Mensch mit Behinderungen durchgehend zu beteiligen, seine Wünsche sind zu dokumentieren und der individuelle Bedarf muss ermittelt werden. Das Verfahren soll transparent, trägerübergreifend, interdisziplinär, konsensorientiert, individuell, lebensweltbezogen, sozialraumorientiert und zielorientiert sein. Eine echte Herausforderung für die 44 Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg, die die Leistungen dann entsprechend festlegen und verantworten müssen. Die individuelle Hilfebedarfsermittlung orientiert sich nun an der ICF-Klassifikation (International Classification of Functioning, Disability and Health = Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) der Weltgesundheitsorganisation und den darin aufgeführten neun Lebensbereichen. Die ICF ist dabei nicht primär defizit- sondern ressourcenorientiert. Es geht nicht nur um die Folge von Gesundheitsproblemen, sondern immer um die Wechselwirkung der Teilhabeeinschränkung mit der Umwelt. Das Modell bezieht Informationen aus den Bereichen Körper (Biologie), Psyche und soziale Umwelt mit ein. Darum spricht man vom Bio-Psycho-Sozialen Modell der ICF. Um die ICF und ihre mehr als 1400 Items „handhabbar“ zu machen, entwickeln geschulte ICF-Multiplikatoren in der Stiftung Liebenau eine Standardliste mit den relevanten Items (s. auch S. 12). Die Begleitung des Einzelnen Jeder Mensch mit Behinderungen wird in der Stiftung Liebenau künftig eine Teilhabebegleitung haben, die ihn in den verschiedenen Lebensbereiche wie Wohnen, Bildung und Arbeit begleitet. Die Leistungserbringung wird optimiert und die vom BTHG geforderte Personenzentrierung umgesetzt (s. Seite 15). Dies wird in Zukunft den Prozess „weg vom institutionell geprägten Fürsorger hin zum Erbringer von Dienst- und Unterstützungsleistungen beschleunigen“, so Munk. Allerdings bleibe der Gedanke der Fürsorge in der unmittelbaren Arbeit von Menschen für Menschen mit Behinderungen weiterhin selbstverständlich. Munk ist überzeugt: „Das BTHG wird eine Zeit benötigen, bis es seine Wirkung entfaltet, aber es wird seine Wirkung entfalten!“ (al) anstifter 2 | 2020 11
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