Schwerpunkt Sich mit Abstand nahe sein Leben im Lockdown – bis zuletzt Familie, Freunde, Vertraute: Soziale Kontakte sind die Essenz unseres Lebens und gerade in der letzten Lebensphase von besonderer Bedeutung. Aufgabe der Pflegekräfte ist es, diese Beziehungen aufrechtzuerhalten, Nähe und Geborgenheit zu vermitteln – selbst dann, wenn strenge Hygienevorschriften und ein Besuchsverbot vor allem Abstand fordern. Hausleiterin Jutta Unger berichtet, wie ihr Team im Haus St. Josef auch im Lockdown individuellen Bedürfnissen nachkam und ein würdevolles Leben bis zuletzt ermöglichte. Zum letzten Lebensabschnitt gehört vor allem der Abschied: Nochmal reden, sich entschuldigen oder bedanken, sich einfach nahe sein. Die normalsten Dinge der Welt. Doch während des Lockdowns, der im Zuge der Lungenkrankheit Covid-19 von Mitte März bis Anfang Mai in Österreich verhängt wurde, war auch im Schrunser Haus St. Josef nichts mehr normal: Die Pflegekräfte setzten sich mit den neuen, strengen, auch material- und zeitintensiven Hygiene-Maßnahmen auseinander, um sie bestmöglich in ihren Alltag zu integrieren. Dabei erschwerten das ständige Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, das Abstandhalten und häufige Händedesinfizieren die Beziehungsarbeit erheblich. Getoppt wurden diese Einschränkungen noch durch das generelle Besuchsverbot. Reden trotz geschlossener Türen Für Menschen mit Demenz oder eingeschränktem Hörvermögen war es besonders schwierig, sich in der „neuen Normalität“ zurecht zu finden: Sie benötigten zusätzliche Unterstützung. Andere vermissten das Kommen und Gehen in einem eigentlich offenen Haus und natürlich die regelmäßigen Besuche durch Familie, Freunde und Vertraute. Auch hier waren die Pflegekräfte mehr gefordert als in „normalen“ Zeiten: In vielen Fällen informierten sie die Angehörigen täglich über das Befinden ihrer im Heim lebenden Mütter, Väter und Partner. Darüber hinaus haben sich auch zahlreiche Mitarbeiter in der Betreuung und Verwaltung engagiert, bis Videobotschaften, Briefe oder Päckchen hin- und hergingen und sich die Menschen einander wieder nahe fühlen konnten. Sterben wie in „normalen“ Zeiten In der Zeit des Lockdowns starben zwei Menschen im Haus St. Josef; keine Covid-19-Sterbefälle, sondern die übliche Sterberate in einem Pflegeheim für ältere Menschen. Ihr größter Wunsch war es, ihre Familie noch einmal sehen zu können. Trotz der hohen Auflagen erfüllten die Pflegekräfte dieses in „normalen“ Zeiten selbstverständliche Anliegen. Es galt, vorab Gespräche mit den Angehörigen zu führen, um sie über die strengen Hygieneauflagen aufzuklären und einen Besuchstermin zu vereinbaren. Nach einer intensiven Handhygiene und ausgestattet mit einer Mund-Nasen-Schutz-Maske sowie einem Übermantel war der Kontakt schließlich möglich. Wie in „normalen“ Zeiten wurden auch individuelle Wünsche und Rituale realisiert. Denn wie in „normalen Zeiten“ stand auch im Lockdown der würdevolle Umgang mit dem Bewohner im Vordergrund allen Handelns. (ju) 18 anstifter ÖSTERREICH 2 | 2020
Schwerpunkt | Spiritueller Impuls Unberührte Nähe von Prälat Michael H. F. Brock Heute ist der 3. April 2020. Das stimmt doch gar nicht, werden Sie denken. Heute, da Sie diese Zeilen lesen, ist es September. Aber heute – wie gesagt – ist es Anfang April, und ich bin gebeten worden, diesen Impuls zu schreiben. Ich habe aber keine Ahnung, welche Worte im September wichtig und richtig wären. Gelten die Ausgangsbeschränkungen wegen Corona noch? Ist ausreichend Schutzausrüstung vorhanden? Sind die Zahlen der Infektionen bereits gesunken? Wie viele Menschen werden gestorben sein? Funktioniert unser Gesundheitssystem noch? Wie steht es in der Pflege und Betreuung? Wie geht es den Menschen, die wir betreuen, und wie geht es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Heute, Anfang April, habe ich nur Fragen und keine Antworten. Ich sehe aus meinem Fenster hinunter in den Garten, auf den Platz vor dem Liebenauer Schloss, Richtung Kantine und Kirche. Es ist niemand unterwegs. Die Veranstaltungen im Schloss sind abgesagt, die Kantine geschlossen, keine Gottesdienste, Ausgangsbeschränkung. Mehr als zwei Menschen sollen nicht zusammen sein an öffentlichen Orten. Die Sonne scheint, es geht ein eiskalter Wind. Und Mitte September? Ich weiß es nicht. Angst, Zuversicht, Nähe, Distanz, Hamster, Einsamkeit, Freude, Feiern, oder Quarantäne? Ich weiß es nicht. Aber ich ahne, was in ein, zwei Jahren sein wird. Zumindest habe ich einen Traum davon, auch eine Hoffnung. Im Mai 2021 wird die Welt eine andere sein, weil wir anders sein werden. Jedenfalls träume ich davon. Ich träume, dass das Händeschütteln ein Zeichen des Vertrauens sein darf, eine Umarmung Geborgenheit schenkt und Zuneigung ausdrückt, die von Herzen kommt. Ich träume davon, dass Zeit nicht mehr verschwendet wird, sondern geteilt, genossen und mit Sinn erfüllt. Ich träume davon, dass wir unser Leben nach wie vor als zerbrechlich ansehen werden, aber uns nicht mehr fürchten müssen. Ich träume davon, dass Achtsamkeit zur Gewohnheit geworden ist, nicht voreinander, sondern füreinander. Ich träume davon, dass wir ein Gespür für Einsamkeit entwickelt haben, das uns näher zusammenbringt, uns Einsamkeit zu ersparen. Denn Einsamkeit braucht kein Mensch. Vielleicht haben wir Stille wieder schätzen gelernt und Ruhe. Ich wünsche mir wieder Briefe im Briefkasten, die lange unterwegs waren, und dass die Zeit, die wir einander schenken, als Geschenk empfunden wird. Ich träume davon, dass die Toten nicht vergessen werden und die Gesunden das Geschenk des Lebens nicht zu selbstverständlich nehmen. Und ich wünsche mir, dass wir im Jahr 2021 wieder feiern können, das Leben, uns selbst und mit anderen, ein Fest dankbaren Lebens, ein ehrliches Fest, weil wir endlich wieder wissen, auf was es ankommt. Achtsamkeit, die treu bleiben wird, und Begegnungen, die glücklich machen. Sorgen, die ernst genommen werden, und Nähe, die nie mehr unberührt sein wird. Ich wünsche mir das Leben zurück, ein geborgenes. anstifter ÖSTERREICH 2 | 2020 19
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