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Anstifter 2, 2019 der Stiftung Liebenau

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Der Anstifter ist die Hauszeitschrift der Stiftung Liebenau mit Themen aus den Bereichen Bildung, Familie, Gesundheit, Pflege und Lebensräume, Service und Produkte sowie Teilhabe.

Schwerpunkt Kreative

Schwerpunkt Kreative Vorsicht ist gefragt Erfahrungen einer Betreuungsrichterin Freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) bedürfen einer Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Sigrid Scharpf hatte als Richterin am Betreuungsgericht Ravensburg über viele FEM-Anträge zu entscheiden, bis sie im vergangenen Sommer in Pension ging. Für den Anstifter hat sie die Rechtslage erläutert und ihre langjährigen Erfahrungen beschrieben. „In Deutschland ist die Freiheit des Menschen in bemerkenswerter Weise geschützt“, sagt Sigrid Scharpf. Das Grundgesetz garantiert das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und schützt die Freiheit der Person, womit auch die Bewegungsfreiheit gemeint ist. Sie darf nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden. Im Betreuungsrecht kommen zwei Gesetze zum Tragen: Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG), wie es in Baden-Württemberg heißt (siehe Kasten). Eine Unterbringung und Behandlung in der Psychiatrie gegen den Willen der Betroffenen oder eine FEM muss „sehr zeitnah“ beim Betreuungsgericht beantragt werden. Dabei müssen die Antragsteller begründen, dass die Maßnahme nach den Vorgaben des Gesetzes notwendig und für den Betroffenen unverzichtbar ist und nicht durch mildere Maßnahmen vermieden werden kann. Auch eine ärztliche Stellungnahme muss vorgelegt werden. Das sind hohe formale Auflagen und für Ärzte und Betreuer nicht leicht zu erfüllen. Sigrid Scharpf sieht die Berechtigung allerdings auch in der Prävention: „Um den formalen Aufwand zu vermeiden, klopfen die Verantwortlichen zunächst alle anderen Möglichkeiten ab, wie man der Gefährdungssituation begegnen könnte.“ Insofern rege der Gesetzgeber an zum Nachdenken, zu Vorsicht und Kreativität. Alternativen zu FEM hat die Initiative „Werdenfelser Weg“ aufgezeigt. Die Initiatoren – Fachleute aus Gerichten und Jugendämtern – setzen sich seit 2010 bundesweit dafür ein, den Einsatz von Bauchgurten oder anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen zu reduzieren. Immer mehr Einrichtungen beschreiten diesen Weg, schaffen zum Beispiel Niederflurbetten an, die Senioren vor Verletzungen beim Verlassen des Bettes schützen und damit Bettgitter überflüssig machen. „Fixierungen mit Gurten gibt es seither so gut wie nicht mehr“, weiß Sigrid Scharpf. „Man hat bemerkt, dass Fixierungen nicht nur Bewegung einschränken, sondern auch Nebenwirkungen haben. Zum Beispiel können sie Depressionen auslösen und den Muskelabbau beschleunigen.“ Die meisten Anträge, die der Richterin a. D. vorgelegt wurden, bezogen sich auf eine geschlossene Unterbringung rund um die Uhr oder einen wiederholten Einschluss oder ein Timeout, also die weitgehende Abschirmung von Außenreizen. Vor der Entscheidung sah sie sich die Situation vor Ort an. Und dann galt es abzuwägen: zwischen dem Freiheitsrecht und der Menschenwürde des Betroffenen auf der einen Seite und der Handlung, die seinem Schutz dienen sollte, und ihren Nachteilen auf der anderen. Hat sie auch Anträge abgelehnt? Nicht sehr häufig, meint sie. Und wenn, habe man in der Regel gemeinsam nach einer Lösung gesucht. „Ich habe sehr gut funktionierende Einrichtungen erlebt, die FEM nur in begründeten Fällen beantragt haben.“ Auf die Frage nach einem Beispiel fällt ihr ein junger Mann mit Autismus und einer schweren Zwangsstörung ein. Der habe immer einen Baustein fortgeworfen und sei ihm dann hinterhergesprungen. „Er wäre seinem Baustein auch durchs Fenster hinterhergesprungen.“ Die Betreuer hätten den jungen Mann keine Sekunde aus den Augen lassen können. „Da war das Schutzinteresse augenfällig“, sagt sie. (hr) Gesetzliche Grundlagen § 1906 BGB: Eine FEM ist nur erlaubt, wenn sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. § 13 Absatz 3 PsychKHG: Unterbringungsbedürftig ist, „wer infolge einer psychischen Störung (…) sein Leben oder seine Gesundheit erheblich gefährdet oder eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für Rechtsgüter anderer darstellt, wenn die Gefährdung oder Gefahr nicht auf andere Weise abgewendet werden kann.“ 14 anstifter 2 | 2019

Schwerpunkt Schutz für sich und andere Freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) aus fachärztlicher Sicht Die Freiheit eines Menschen ist ein hohes Gut. Seine Sicherheit ebenfalls. Beides muss sorgfältig abgewogen werden, wenn es um Freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) geht. Sebastian Schlaich, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Geschäftsführer der Liebenau Kliniken, befasst sich als Gutachter häufig mit der Frage, in welchen Fällen FEM eingesetzt werden dürfen. solchen Situation ruhig, aber klar in sein Zimmer begleitet werden. In ihrer Erregung bleiben aber manche nicht im Zimmer. Dann ist es notwendig, die Türe, zumindest aber die Wohngruppentüre abzuschließen. Welche Kriterien müssen dazu erfüllt sein? Man muss bedenken, dass sich viele Menschen mit einer geistigen Behinderung auf dem Entwicklungsstand von Kleinkindern befinden und genauso geschützt werden müssen, ohne sie dabei wie Kleinkinder zu behandeln. Entscheidend für FEM ist, dass der Betroffene aufgrund seiner Behinderung kein Gefährdungsbewusstsein hat, sich zum Beispiel nicht verkehrssicher verhalten und sich aufgrund seiner sprachlichen Defizite keine adäquate Hilfe verschaffen kann. Wann sind Freiheitseinschränkende Maßnahmen sinnvoll oder sogar notwendig? Meist handelt es sich um Schutzmaßnahmen. Ein Beispiel ist ein 15-jähriger Jugendlicher mit einer frühkindlich-autistischen Störung und kognitiven Einschränkungen. Sein Verhalten ist oft zwanghaft, er braucht ritualisierte Abläufe. Wenn diese Rituale unterbrochen werden – und sei es nur fürs Zähneputzen – kann es passieren, dass er in Erregung gerät. In seinem Erregungszustand verliert er dann die Kontrolle über sein Verhalten. Einige tendieren dann zu erheblichen Aggressionen gegen sich selbst, andere rennen blindlings davon. Unbegleitet kann aufgrund einer mangelnden Orientierung und der mangelnden Verkehrssicherheit eine vitale Bedrohung entstehen. Was sind die häufigsten FEM, die in einem solchen Fall ergriffen werden? Der Patient sollte, um sich zu beruhigen, in einer Solche Maßnahmen werden in der konkreten Situation ergriffen. Da können die Betreuer nicht erst einen Richter fragen... Deshalb muss schon im Vorfeld von den Eltern, beziehungsweise gesetzlichen Betreuern ein Antrag auf FEM gestellt werden – wenn beispielsweise ein Patient, der zu Erregungszuständen neigt, neu in eine Wohngruppe aufgenommen wird. Es muss genau definiert werden, warum und welche FEM bei Bedarf ergriffen werden. Ein Richter schaltet einen Verfahrenspfleger ein, fordert ein fachärztliches Sachverständigengutachten an und entscheidet dann über den Antrag. Dieser Beschluss ist in der Regel auf ein halbes bis ganzes Jahr befristet. Die Mitarbeiter der Wohngruppe müssen jede einzeln notwendig werdende FEM gewissenhaft dokumentieren. FEM stehen häufig in der Kritik. Wie reagieren Sie darauf? Die Kritik kann ich verstehen, weil es hier um die Freiheit eines Menschen geht. Aber ich sehe auch, welche schrecklichen Folgen es haben könnte, wenn wir die Betroffenen nicht schützen. Wichtig ist, dass das Ganze durch Richter und Ärzte gut begleitet und überwacht ist, damit es nicht zu Willkür kommt. Neben einer guten Dokumentation ist eine schützende und fürsorgliche Haltung bei der Anwendung der Maßnahmen unabdingbar. Die jetzigen Regelungen, die seit einigen Jahren gelten, halte ich für sehr gut. Sie schützen neben den Betroffenen auch die Mitarbeiter der Einrichtungen in ihrem Handeln. (rue) anstifter 2 | 2019 15

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