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Anstifter 2, 2017 der Stiftung Liebenau

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Der Anstifter ist die Hauszeitschrift der Stiftung Liebenau mit Themen aus den Bereichen Bildung, Familie, Gesundheit, Lebensräume, Pflege, Service und Teilhabe.

Warme Milch wirkt wahre

Warme Milch wirkt wahre Wunder Mit der Nachtschwester unterwegs im Pflegeheim Wie ist das nachts im Pflegeheim? Wer schläft, wer nicht? Was machen die, die nicht schlafen? Im St. Josefshaus in Gaißau kümmert sich ab 22 Uhr eine Pflegekraft alleine um die 44 Bewohner. Heute Nacht ist das Christine Düngler. Sie ist routiniert, packt an, kennt sich aus. Denn die 60-Jährige macht nur Nachtschichten und das seit 25 Jahren. Augenzwinkernd sagt sie: „Warme Milch wirkt manchmal wahre Wunder“ und lässt ahnen, dass auch nachts nichts über eine individuelle Betreuung geht. Leise und vorsichtig öffnet die Nachtschwester die Tür, schleicht auf Zehenspitzen ins Zimmer. Aber Bertha Anders* schläft noch gar nicht, sondern schaut fern. „Ja, hallo Frau Anders, sind Sie noch wach? Wie geht’s Ihnen? Ich bin heute wieder hier, die Christine“, begrüßt sie die ältere Dame und drückt ihr die Hand. Bertha Anders strahlt. Sichtrunde nennt sich diese erste Runde, die um 21 Uhr beginnt, zwischen 22 und 23 Uhr endet und bei der die Nachtschwester alle Bewohner, die noch wach sind, begrüßt. „Um neun Uhr schlafen viele schon, deshalb klopfe ich nur an, wenn ich sicher weiß, dass die- oder derjenige noch wach ist. Unsere Bewohner müssen nicht schlafen, sollen aber ungestört schlafen dürfen“, sagt sie. Ängste nehmen Christine Düngler arbeitet sich von Zimmer zu Zimmer, immer bereit zum Gespräch. Ein neuer Bewohner in Zimmer 307 fragt ängstlich: „Ja, wo simmer denn hier?“ Sie nimmt sich Zeit, erklärt, wie er nach dem Schlaganfall zuerst in Bregenz im Spital war und jetzt nach Gaißau gekommen ist. Der ältere Herr ist erstaunt: „A Schlägle?“ Das sei schon das zweite, sagt die Nachtschwester, das erste sei 2014 gewesen. „Ah, schon das zweite? Aber wo bin i denn jetzt?“ Geduldig erklärt sie ihm ein zweites Mal, wo er ist, und auch, wo seine Frau ist. Sie deckt den Neuen liebevoll zu und schlägt die Decken-Enden so ein, dass um die Füße ein „Hüsle“ entsteht, eine kleine luftige Höhle. Der ältere Herr grummelt zufrieden. „Das mögen viele gern“, sagt die Nachtschwester. Vorlieben respektieren Überhaupt kennt Christine Düngler die nächtlichen Vorlieben „ihrer“ Bewohner ganz genau: Die einen wollen, dass das Licht im Vorraum des Zimmers brennt und die Tür einen Spalt offen 28 anstifter 2 | 2017

Stiftung Liebenau Österreich Dokumentation ist wichtig: Nachtschwester Christine Düngler schreibt auf, was die Nacht über passiert. Christine Düngler kocht Milch für einen Bewohner. bleibt. Andere schließen ab, was kein Problem ist, da die Nachtschwester auch einen Schlüssel hat. Mit einigen betet, mit anderen singt sie noch. Die Nachtschwester weiß, wer schnell schwitzt oder leicht friert, wer nur bei laufendem Fernseher schlafen kann oder gerne noch länger wach ist. Oder ob etwas nicht stimmt: Antonia Ganghofer* ist entgegen ihrer Gewohnheit um 23 Uhr noch nicht im Bett. Das ginge nicht, erklärt die ältere Dame, das Bett sei so glatt und schön. Das wolle und könne sie nicht kaputt machen. Etwas überrascht, doch gerne bestätigt die Nachtschwester den Sachverhalt und schlägt das Bett behutsam zurück, meint, dass es doch auch schön sei, in einem so schönen Bett zu liegen. Antonia Ganghofer spricht auf die freundliche Validation an und legt sich nun gerne hinein. Beim Sterben begleiten Nach der Sichtrunde hat die Nachtschwester Zeit für die Dokumentation. Sie ist noch am Schreiben, als die Glocke geht. Maria Bartel*, dritter Stock, klingelt diese Nacht zum dritten Mal. Das heißt zunächst einmal wieder: drei Stockwerke Treppensteigen. Denn seit die Kollegin von der Spätschicht um 22 Uhr nach Hause gegangen ist, darf die Nachtschwester aus Sicherheitsgründen nicht mehr Aufzug fahren. Christine Düngler beeilt sich, denn sie weiß, Maria Bartel hat Angst: Die letzte Nacht ging es ihr nicht gut, da hat sie Blut gespuckt. Sie hat Angst vor dem Sterben, kann noch nicht loslassen. Die Nachtschwester redet mit ihr, über den Besuch von heute, die Probleme. Dann deckt sie Maria Bartel liebevoll zu, baut ein „Hüsle“ und wünscht ihr eine gute Nacht. „Ich finde es schön, dass wir die Menschen hier im Haus auch beim Sterben begleiten dürfen. Das ist ein Privileg und das muss man auch können.“ Beim Einschlafen unterstützen Kaum im Dienstzimmer angelangt, klingelt es wieder. Zweiter Stock, der Neue. „Ja, wo simmer denn hier?“, fragt er. Dasselbe Gespräch wie bei der Sichtrunde beginnt, nimmt genauso geduldig, genauso freundlich seinen Lauf. Der Neue schläft beruhigt weiter. Auf dem Weg nach unten wieder eine Glocke. Sodbrennen. Die Nachtschwester holt dem älteren Herrn ein Medikament aus dem Dienstzimmer, schaut auch kurz noch zu einer Bewohnerin, die, wie vermutet, tatsächlich eine nasse Inkontinenzeinlage hat. „Anna Huber trinkt gern Himbeersaft nachts“, erklärt sie, „das hilft ihr beim Schlafen.“ Eine Bewohnerin bekommt noch eine kleine Thermoskanne Tee mit Honig, ein anderer Bewohner ein Marmeladenbrot, weil er noch Hunger hat und ein Mann aus dem zweiten Stock ein Glas Milch, weil er nicht schlafen kann. „Oft hilft ein Glas Milch“, sagt Christine Düngler. Medikamente gibt es nachts nur selten im St. Josefshaus. Schlafen wirklich alle? Zwei Uhr dreißig. Jetzt schlafen wirklich alle. Nein, doch nicht: Unten im Aufenthaltsbereich gegenüber dem Dienstzimmer sitzt noch immer eine Bewohnerin im Halbdunkel. Helga Engel* hat ihre letzte Zigarette bereits um 23 Uhr bekommen. Jetzt gibt es keine mehr. Die Nachtschwester bietet ihr ein Glas warme Milch an, Helga Engel lehnt ab, diskutiert, argumentiert und geht dann missmutig in ihr Zimmer. Zehn Minuten später kommt sie wieder und stimmt der Milch nun doch zu. Während das Glas in der Mikrowelle seine Runden dreht, genießt sie die Unterhaltung mit der Nachtschwester. Um kurz nach drei Uhr schläft auch sie und Christine Düngler beginnt mit der Lagerrunde. Sie lagert, bei wem das nötig ist, wechselt Inkontinenzeinlagen, wo dies erforderlich ist, schaut aber nicht mehr in alle Zimmer wie bei der Sichtrunde, sondern betont noch einmal: „Wer schläft, soll ja auch schlafen dürfen.“ (ebe) * Namen geändert anstifter 2 | 2017 29

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