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Anstifter 1, 2021 der Stiftung Liebenau Österreich

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Schwerpunkt „Wichtig

Schwerpunkt „Wichtig ist das Geben und Nehmen“ Professionelle Beziehungen im Pflegeheim Eine Beziehung aufzubauen und zu gestalten, ist das Ziel des Pflegeprozesses und der eigentliche Gegenstand der Pflege. Nur im Miteinander lassen sich individuelle, pflegerische Ziele erreichen, nur durch Vertrauen wächst ein sicheres und geborgenes Lebensgefühl. Wie bei allen Beziehungen geht es darum, das richtige Maß an Nähe und Distanz zu finden und die Verbundenheit über Sprache, Gestik, Mimik oder Berührung zu erhalten. Doch wie gelingt die berufliche Beziehung mit älteren und an Demenz erkrankten Menschen? Was, wenn sich ein Bewohner weigert, überhaupt eine Beziehung einzugehen? Und wie reagiere ich als Pflegeperson, wenn mich eine Bewohnerin persönlich beleidigt? Im folgenden Interview gibt Univ. Prof. Dr. Stefanie Auer, Leiterin des Zentrums für Demenzstudien an der Donau-Universität Krems, Antworten und betont, dass gute Beziehungen vor allem immer wechselseitig sind. 4 anstifter ÖSTERREICH 1 | 2021

Schwerpunkt Frau Prof. Dr. Auer, Beziehungen bestimmen unser Leben. Jeder Mensch möchte von anderen gehört, verstanden, angenommen und sich zugehörig fühlen. Warum eigentlich? Dr. Stefanie Auer: Menschen sind soziale Wesen. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass sich ein Kind nur optimal entwickelt, wenn es angenommen wird und sich geborgen fühlt. So sind wir – im Gegensatz zu anderen Spezies – von Geburt an auf soziale Beziehungen angewiesen. Inwiefern verändern sich Beziehungen im Alter? Das ist abhängig von der individuellen Situation, der Kultur und der konkreten Altersphase selbst. Oft bildet der Pensionsantritt eine Zäsur. Trotzdem aktiv zu bleiben und ein Sozialleben zu haben – das gelingt den einzelnen Menschen unterschiedlich gut. Leider gibt es hier nicht genug Programme, die dabei helfen können. Auch die individuell empfundene Leistungsfähigkeit und der allgemeine Gesundheitszustand bestimmen, wie viel Energie eine Person im Alter in Beziehungen investieren kann. Bei Krankheit geraten viele in eine Abhängigkeits-Situation. … und bei Demenz? Eine Demenz entwickelt sich normalerweise schrittweise, geht durch verschiedene Stadien und natürlich spielt auch die Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Die Theorie der Retrogenese („umgekehrte Kindheitsentwicklung“, Anm. d. Red.) vergleicht die Bedürfnisse von Menschen in verschiedenen Phasen der Demenz mit den Bedürfnissen von Kindern verschiedener Altersstufen. Wichtig ist, dass Pflegende die individuellen Bedürfnisse des pflegebedürftigen Menschen erkennen. Was passiert beim Umzug in ein Pflegeheim auf der Beziehungsebene? Bei ihrem Umzug in ein Pflegeheim werden ältere Menschen von vielen Gefühlen begleitet und befinden sich in einer Ausnahmesituation: Sie verlieren ihr bisheriges Zuhause, das Zusammenleben in der gewohnten Umgebung, fühlen sich zum Teil von den Angehörigen aufgegeben und wissen nicht, was auf sie zukommt – das macht Angst. Gleichzeitig spüren diejenigen, die sich zuhause überfordert fühlten, ein positives Gefühl der Entlastung. Bei der Übersiedlung gehen Beziehungen verloren, etwa zu den früheren Nachbarn. Viele empfinden es als sehr schwierig, neue Beziehungen zum Beispiel zu Pflegepersonen zu etablieren. Das Pflegeteam sollte sich dieser Fülle an Gefühlen, die die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner mitbringen, bewusst sein. Wie kann das Team diesen Ängsten entgegenwirken und die älteren Menschen unterstützen, neue Beziehungen aufzubauen? Da braucht es ein klares Sozialkonzept und intensive Beziehungsarbeit. Jeder im Team sollte eine klare Vorstellung haben, wie sich die Beziehungen innerhalb der Institution gestalten sollen. Die Pflegeperson sollte den einzelnen Bewohner immer wieder nach seinen Bedürfnissen und Wünschen fragen. Nur wenn sie diese kennt, kann sie entsprechende Aktivitäten anbieten. Wichtiger für eine Beziehung ist aber noch das Geben und Nehmen: Menschen brauchen das Gefühl, gebraucht zu werden. Was sollten Pflege- und Betreuungskräfte beim Aufbau ihrer Beziehung zu einem neuen Bewohner beachten? Jede Person, die in ein Pflegeheim einzieht, kommt aus einer sehr individuellen Situation. Deshalb ist der erste Kontakt und der Aufbau einer Vertrauensebene für die weitere Beziehungsentwicklung zwischen dem Bewohner und den Mitgliedern des Pflegeteams von größter Bedeutung. Man sollte hier wie bei jedem Kennenlernen vorgehen, sich für den anderen nicht nur in seiner Rolle als Bewohner, sondern auch als Person interessieren, Interesse auch einfordern und signalisieren, FAST* Stadium Entwicklungsalter Benötigte Betreuung von Personsen mit Demenz 1 Erwachsener Keine 2 Erwachsener Keine 3 13 + Jahre Keine 4 8 – 12 Jahre Unabhängiges Überleben ist möglich 5 5 – 7 Jahre Person kann allein ohne Unterstützung nicht überleben 6 2 – 5 Jahre Person braucht vollzeitige Begleitung 7 0 – 2 Jahre Person benötigt vollzeitige Pflege und Betreuung Die Theorie der Retrogenese („umgekehrte Kindheitsentwicklung“ nach Barry Reisberg et al., 1998) vergleicht die Bedürfnisse von Menschen in verschiedenen Phasen der Demenz mit den Bedürfnissen von Kindern verschiedener Altersstufen. *FAST = Functional Assessment STaging: Die verschiedenen Phasen der Demenz anstifter ÖSTERREICH 1 | 2021 5

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