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Anstifter 1, 2020 der Stiftung Liebenau

Der Anstifter ist die Hauszeitschrift der Stiftung Liebenau mit Themen aus den Bereichen Bildung, Familie, Gesundheit, Pflege und Lebensräume, Service und Produkte sowie Teilhabe.

Schwerpunkt Mit Vernunft

Schwerpunkt Mit Vernunft und Gefühl zur weisen Entscheidung Was bei der Entscheidungsfindung hilft Was frühstücken wir, zu welchem Joghurt greifen wir im Supermarktregal, welcher Handytarif passt am besten für uns, welchen Partner wollen wir an unserer Seite – und welche Berufswahl treffen wir? Das Leben stellt einen vor unzählige kleine und große Entscheidungen. Doch was beeinflusst uns in unserer Auswahl der hoffentlich richtigen Option? Manfred König, Psychologe aus dem Berufsbildungswerk (BBW) der Stiftung Liebenau und stellvertretender Leiter des dortigen Fachdienstes Diagnostik und Entwicklung, gibt Antworten. 10 anstifter 1 | 2020

Schwerpunkt Herr König, was haben Sie heute Morgen getrunken: Kaffee oder Tee? Sowohl als auch! Wie immer zuerst zuhause Tee und dann hier im BBW einen Kaffee. Dies war aber nur eine von etwa 20 000 Entscheidungen, die wir laut Wissenschaftlern täglich treffen. Wie bewältigen wir das überhaupt? Viele Entscheidungen werden nicht bewusst getroffen, sondern laufen auf einer unbewussten Ebene ab – sozusagen im Modus des „Autopiloten“. Das ist natürlich auch notwendig, weil wir sonst mit der großen Menge an Entscheidungen völlig überfordert wären. Dazu gehören Dinge wie die angesprochene Frühstücksroutine oder auch beim Autofahren das Gangschalten. Darauf achtet man bewusst ja nur als Fahranfänger, bei dem solche Entscheidungen auch noch in ganz anderen Hirnregionen ablaufen als die Automatismen. Wie ist dieser „Autopilot“ programmiert? Er orientiert sich an einer Vielzahl von Schemata. Das sind Schablonen, Vorlagen und Muster, die sich im Laufe der persönlichen Entwicklung gebildet haben und auf die wir zurückgreifen, um bestimmte Situationen schnell und effektiv einordnen zu können – mit allen Risiken und Nebenwirkungen allerdings. So besteht die Gefahr, dass Dinge, die im Autopiloten gespeichert sind, nicht mehr hinterfragt werden. Und das ist nicht immer gut, wenn wir zum Beispiel an Vorurteile denken. Und was hat es mit dem „Bauchgefühl“ auf sich? Neben der Ebene bewusst/unbewusst lassen sich Entscheidungen auch einteilen in kognitive, emotionale und leibliche Aspekte, die zum Beispiel im „Zürcher Ressourcen Modell“, einem Selbstmanagement-Training, eine zentrale Rolle spielen. Auch das therapeutische Konzept des „Wise Mind“ nach Marsha M. Linehan umfasst mehrere Perspektiven. Demnach geht es um die Fähigkeit, Vernunft und Gefühl zu einem intuitiven Wissen zu verbinden, um dadurch „weise“ Entscheidungen treffen zu können. Das geht dann in Richtung dessen, was wir unter Bauchgefühl verstehen. Nach welchen Motiven entscheiden wir letztlich? Die Frage ist zunächst: Warum treffen wir überhaupt Entscheidungen? Zum einen, damit wir überleben können. Vor allem aber auch, damit wir neben unseren physischen auch unsere psychischen Grundbedürfnisse befriedigen – also Aspekte wie Bindung, Autonomie oder Selbstwert. Diese bilden sozusagen das Fundament unserer Motivation, so oder so zu handeln und zu entscheiden. Dahinter steckt der Wunsch, unsere persönlichen Werte zu leben und unsere Ziele zu erreichen. Mobilität, Globalisierung, Digitalisierung – in vielen Bereichen des modernen Lebens scheint es mehr Optionen denn je zu geben. Was macht diese „Tyrannei der Wahl“ mit uns? Entscheidungen zu treffen verursacht häufig eine Dissonanz. Es entsteht also zunächst einmal ein innerlich spürbarer „Missklang“, ein Spannungszustand, wenn ich zum Beispiel zwischen zwei gleichermaßen guten Optionen wählen muss, gerate ich in einen sogenannten Appetenz-Appetenz-Konflikt. Könnten Sie dazu Beispiele nennen? Wenn ich mich zwischen zwei attraktiven Arbeitsstellen entscheiden muss oder zwischen einer Essenseinladung von guten Freunden und einem Rendezvous. Angenehme Sachen, die trotzdem in der Entscheidungsfindung Spannung und Reibung verursachen. Eine andere Art von Dissonanz entsteht bei den sogenannten Appetenz-Aversions-Konflikten. Ein Teil von mir sagt „ja“, ein anderer „nein“. Ich möchte den angebotenen Job, weil er attraktiv und gut bezahlt ist. Aber ich muss halt 60 Stunden in der Woche arbeiten, und die Familie kommt zu kurz. Ich habe hier also einen anziehenden und einen ablehnenden Teil. Ich muss abwägen, welches Bedürfnis mir wichtiger ist und für mich eine Lösung finden. Für viele Menschen ist das aber gar nicht so einfach. Sie drehen sich im Kreis, die beiden Möglichkeiten mischen sich im Kopf immer wieder. Deswegen arbeiten wir in der Gestalttherapie auch mit einer Methode, bei der wir diese Optionen mit Stühlen darstellen. Mit Stühlen? Ja. Die Leute setzen sich auf einen, um dann auch wirklich nur diese eine Seite zu betrachten – ohne dass in dem Moment das Wenn und Aber der anderen Seite mit reinspielt. So bekommt man die unterschiedlichen Motive, die hinter Möglichkeit A und B stecken, klarer getrennt und kann letztlich leichter eine Entscheidung treffen. Denn eines ist klar: Solche inneren Konflikte verbrauchen einfach Energie. Zu den wohl wichtigsten Entscheidungen im Leben eines Menschen zählt die Berufswahl. Was spielt hier eine Rolle? Grundsätzlich ist die berufliche Perspektive ja Teil einer – hoffentlich – umfänglicheren Lebensperspektive. Man verbringt schließlich sehr viel Lebenszeit im beruflichen Kontext. Von daher ist es eine wichtige Aufgabe, eine berufliche Identität zu entwickeln. Wie stelle ich mir also mein Leben vor? Wo sehe ich meianstifter 1 | 2020 11

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