Mediathek der Stiftung Liebenau
Aufrufe
vor 3 Jahren

Zeittöne Herbst/Winter 2020/2021 - Stiftung Liebenau

  • Text
  • Stiftung
  • Digitalisierung
  • Haus
  • Zeit
  • Liebenau
  • Frau
  • Pflege
  • Inge
  • Jens
  • Menschen

Lebenslinien Das Thema

Lebenslinien Das Thema meiner Doktorarbeit? Das ist schon so lange her. Das weiß ich doch nicht mehr«, sagt Dr. Renate Martin und lacht, weil sie das einfach gar nicht wichtig findet. Die Promotion gehöre halt zum Medizinstudium wie die Wurst aufs Brot. Nach dem 1934 bestandenen Abitur wollte sie gerne Krankenschwester werden, weil sie für die Menschen da sein wollte. Der Vater, Theo Martin, ein Oberfinanzrat, aber fand, dann könne sie gleich Ärztin werden. Und so haben die Eltern sie sehr dabei unterstützt, in München Medizin zu studieren. »Das war ja teuer, ihnen war das völlig egal, obwohl die Pension meines Vaters nicht hoch war.« Der hatte sich nämlich 1933 von einem befreundeten Arzt frühpensionieren lassen, weil er »als Beamter nicht Pfötchen halten wollte für diesen Hitler«, erzählt sie ernst. Bereits 1939 trat sie in Friedrichshafen ihr erstes Assistenzjahr an. Danach arbeitete sie in der Tübinger Frauenklinik. Und als ein Freund ihres Vater, der bei der ZF Friedrichshafen arbeitete, von ihrer Idee eine eigene Praxis eröffnen zu wollen hörte, ließ er ausrichten: Meckenbeuren sei doch ein guter Ort, denn zwischen Ravensburg und Friedrichshafen gäbe es keinen einzigen Arzt. Gesagt, getan, Dr. Renate Martin zog 1946 nach Meckenbeuren und blieb. Die Gegend gefiel der gläubigen Katholikin sehr. »Hier hat es so schöne Kirchen und gute Pfarrer«. Und so behandelte sie ihre Patientinnen und Patienten in den ersten Jahren in ihrem Wohnund Schlafzimmer oder wie sie es ausdrückt: »Ich habe in meiner Praxis gewohnt. Mein Wartezimmer war die Stiege zum zweiten Stock. Da saßen sie alle.« Zum Essen ging sie ins Gasthaus. Das findet sie noch heute sehr lustig. »Ich kann überhaupt nicht kochen. Das habe ich nie gelernt.« Nach einiger Zeit gab es eine richtige Praxis und eine richtige Wohnung und dort hat eine Haushälterin für alles gesorgt. Hausbesuche machte sie viele Jahre bei Wind und Wetter, natürlich auch nachts, immer mit dem Fahrrad, bis sie dann doch einen VW anschaffte, weil es im Winter einfach leichter war. Auch in der Politik hat sie ihre Spuren hinterlassen. Eines Tages fragte die CDU in Meckenbeuren an, ob sie nicht auf die Liste für den Gemeinderat möchte. »Natürlich wollte ich! Das ist doch interessant.« Und so wurde Renate Martin 20 Jahre immer wieder gewählt und blieb bis zu ihrem Ausscheiden die einzige Frau in diesem Gremium. »Sie haben mich halt mögen. Deswegen konnte ich die Herren nach Jahren zäher Diskussionen auch überzeugen, das Rauchen während der Sitzungen zu lassen«, berichtet sie stolz und ergänzt: »Das war mein größter Erfolg.« An ihrem 104. Geburtstag hat ihr die Gemeinde Meckenbeuren die Ehrenbürgerschaft verliehen. Überbracht wurde sie von der Bürgermeisterin und der jüngsten Gemeinderätin. »Da hat sich wohl was geändert«, stellt sie fest. Mit 68 Jahren hat Renate Martin 1983 ihre Praxis einem Nachfolger übertragen. In Meckenbeuren ist sie geblieben und hat noch viele Jahre Hausbesuche gemacht und Menschen versorgt, die nicht zum neuen Arzt wollten. An der Wand in ihrem Zimmer hängt das Foto eines schmucken, jungen Mannes. »Das war mein Bräutigam, der Karl Goscharek. Der war auch Arzt. Aber trotzdem hat ihn eine Tuberkulose dahingerafft. Danach wollte ich keinen mehr.« Mit dem Bild an der Wand hält sie die Erinnerung an ihn wach. »Das Leben, ach, das war sooo schön!« ruft sie aus, obwohl ihr Schicksalsschläge wie dieser und andere nicht erspart blieben. »Aber«, sagt sie und zeigt mit der Hand nach oben »Gott hat alles immer gut gefügt. Ich fühle mich an seiner Hand immer geborgen.« Das betont sie mit großer Dankbarkeit für ein langes, frohes Leben und möchte nun einen Spaziergang machen, bei dem ich sie gerne begleiten dürfe. Auf dem Weg aus dem Haus wird ihr zugerufen, das Mittagessen sei bereit. Renate Martin sagt freundlich: »Vielen Dank!« Mir flüstert sie schelmisch zu: »Wir gehen jetzt ein Stückchen zusammen. Sie machen mir das Essen nachher bestimmt wieder warm…« Hier seien alle sehr nett. »Ich bin ja auch nett«, findet sie, setzt Strohhut und coole Sonnenbrille auf und marschiert in den Sommertag. 14 zeittöne Lebenslinien zeittöne Lebenslinien 15

Hier finden Sie Impulse für den Alltag

Anstifter