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wir 1 / 2018

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14 Bedeutung von Bindung

14 Bedeutung von Bindung und Zugehörigkeit in der Kooperation mit Eltern Eltern haften für ihre Kinder – Kinder haften an ihren Eltern Die Entscheidung, ein Kind in professionelle Obhut zu geben, stellt für jede betroffene Familie eine enorme Herausforderung dar. Eltern wollen das Beste für ihr Kind, weil Eltern gute Eltern sein wollen. Und Kinder, das zeigen heutige Ergebnisse der Bindungsforschung, suchen ihren beständigsten Ankerpunkt bei ihren Eltern. Für sie sind die Eltern die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Bis zum Tag der Aufnahme in eine Wohngemeinschaft - stationär oder ambulant - sind Eltern allumfänglich für die Belange ihrer Kinder verantwortlich. Doch nun treten weitere Personen hinzu, die ebenfalls Beziehungen und Bezug aufbauen und entwickeln wollen. Aus dem bisherigen Dreieck Vater-Mutter-Kind entsteht ein Viereck. Die Gründe für eine Versorgung außerhalb des Familienkontextes konfrontiert Eltern meist mit einer harten Lebensrealität: „Wir würden Sarah* so gern weiterhin zu Hause versorgen, doch die alltägliche Pflege und Aufsicht geht an unsere Substanz“, beschreibt die Mutter eines Mädchens mit einer Mehrfachbehinderung ihre Situation. Der Vater eines Jungen sagt: „Seit der Trennung von meiner Frau habe ich beide Jungs allein bei mir. Der Streit und die Verantwortung belasten mich sehr. Dazu kommt, dass Tom* scheinbar überhaupt nicht aufhören kann zu streiten oder nicht kapiert, was ich eigentlich meine. Manchmal wirkt Tom regelrecht autistisch.“ Um selbst wieder zu Kräften zu kommen und für ihre Kinder eine gute Entwicklung zu ermöglichen, stimmen Eltern einer Fremdunterbringung zu – wie die übliche amtssprachliche Formulierung lautet. In der Vergangenheit kam es an diesem Punkt dann oft zum Bruch: Eltern zogen sich mitunter schnell aus ihrer ureigenen Verantwortung zurück. Erzieherinnen und Erzieher kümmerten sich statt ihrer wie selbstverständlich um die Erziehung der Kinder. Oder Eltern und Professionelle gerieten immer wieder in Konflikt miteinander. Für die Kinder ändern sich mit der Aufnahme in die Wohngemeinschaft, besonders bei großer örtlicher Distanz, alle grundlegenden Lebensbezüge. Plötzlich sind sie Teil von zwei Systemen, die sich um sie kümmern. Zugleich müssen sie ihr Wert- und Regelbewusstsein nach zwei Seiten ausrichten. Teilweise gehen die Vorstellungen darüber, was gut für das Kind ist, zwischen Eltern und Erziehern weit auseinander. Kinder geraten dann zwischen die Stühle und fühlen sich hin- und hergerissen. Der Sozialforscher Richard Günder hat herausgearbeitet, welche besonderen Fallstricke zwischen Eltern und Erziehern gespannt sind. Zum einen treffen Eltern oft auf jüngere und erzieherisch ausgebildete Menschen, die in der Beziehung zwar distanzierter doch aufgrund ihrer Ausbildung besser aufgestellt erscheinen. Ein oft unbewusster Konkurrenzkampf kann entstehen. Zum anderen werden Eltern zu früh mit der Ablösung des eigenen Kindes konfrontiert und verlieren dadurch ein Stück Normalität. Der vielleicht gut gemeinte Rat: „Sie dürfen ruhig loslassen“, erzeugt eher Widerstand, Eltern fühlen sich aus dem Feld gedrängt. Vielmehr sollte die Frage im Mittelpunkt stehen, was Eltern gestalten können. Damit wären wir wieder beim Viereck. Das, was Eltern sich an Wertvermittlung und Zielen wünschen, muss nicht verloren gehen, weil ein Kind von anderen Personen miterzogen wird. Bekanntlich braucht es auch sonst ein ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen, wie es ein afrikanisches Sprichwort besagt. Die Frage ist nur, wer den Hut aufhat. Deshalb verstehen sich heutige Erzieher mehr als Partner, die Eltern und Kinder für eine gewisse Zeitspanne mit ihrer Fachlichkeit begleiten und unterstützen. Die Familienbeziehungen hingegen bleiben lebenslang bestehen.

15 Im Sinne der Beteiligung sollten die Ziele alle verbinden und die Selbstwirksamkeit von Kindern und Erwachsenen verbessern. Das heißt, je klarer besprochen und vereinbart wird, wer welche Aufgabe übernimmt, umso mehr wird Vertrauen wachsen. Wenn Eltern spüren, dass ihre Fragen und Wünsche ernstgenommen werden, werden sie auch den Ideen und Empfehlungen der Erzieher zustimmen können. Ebenso werden sich die Kinder den Erziehern öffnen, wenn sie ihre Eltern hinter sich wissen. Dadurch geraten sie weniger in Loyalitätskonflikte und können eigene Wünsche gegenüber den beteiligten Erwachsenen selbstbewusster bekunden. Diese veränderte Haltung spiegelt sich vielleicht auch in den konzeptionellen Beschreibungen wider: Elternkooperation statt Elternarbeit. * Namen von der Redaktion geändert Stephan Becker Gesetzliche Betreuung durch Angehörige oder externen Betreuer Vertraute Nähe versus gebührende Distanz? Eine Betreuung ist keine Entmündigung. Die Wünsche und Vorstellungen des betreuten Menschen müssen immer handlungsweisend sein. Nur wenn das Wohl der Betroffenen in Gefahr ist, dürfen Betreuerinnen und Betreuer gegen deren erklärten Willen entscheiden, so fordert es das Betreuungsrecht. Was eindeutig klingt, ist oft eine Frage der persönlichen Betrachtung und stellt Betreuer vor Herausforderungen. Viele erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung stehen unter gesetzlicher Betreuung, weil sie bei der Regelung ihrer Angelegenheiten Unterstützung brauchen. Meist geht es dabei um Fragen des Vermögens, der Gesundheit oder um Behörden- und Vertragsangelegenheiten, etwa den Heimvertrag. Auch die Entscheidung, wo jemand wohnt, kann unter eine Betreuung fallen. Oft sind es Angehörige, Eltern oder Geschwister, die die gesetzliche Betreuung in ehrenamtlicher Funktion übernehmen. Der Vorteil: Die Betreuten mit ihrer persönlichen Entwicklung und Geschichte sind gut bekannt. Es besteht eine langjährige Beziehung und es ist davon auszugehen, dass man innerhalb einer Familie Interesse am Wohlergehen des anderen hat. Gerade wenn Wunsch und Wille, wie etwa bei einer Person mit komplexem Hilfebedarf, nicht direkt erfasst sondern eher interpretiert werden können, ist familiäre Vertrautheit wertvoll. Gleichzeitig ist es unter Umständen in diesem Fall aber schwerer, den Sohn, die Tochter, die Schwester eigene Wege beschreiten zu lassen. Umso mehr, wenn diese Wege in vermeintlich zweifelhafte Richtungen führen. Das Bedürfnis, Angehörige vor Schaden zu bewahren, kann verhindern, dass jemand eigene Erfahrungen – auch mit den dazugehörigen Fehlern – machen darf. Das aber gehört zu einem selbstbestimmten Leben. Bei Menschen mit und ohne Behinderung. Die Alternative kann die Betreuung durch Außenstehende sein, entweder ebenfalls ehrenamtlich oder von Berufs wegen, zum Beispiel durch Mitarbeitende von Betreuungsvereinen. Ihnen mag es leichter fallen, die Betroffenen nach eigener „Fasson selig werden“ zu lassen, weil sie nicht durch jahrzehntelange Fürsorge mit ihnen verbunden sind. Nachteil hier: Nicht immer kennen sie die Betreuten hinreichend gut. Das aber zählt zu den Voraussetzungen, um im Sinne eines anderen Menschen entscheiden zu können, besonders dann, wenn eigene Willensbekundungen nicht (mehr) möglich sind. Die Frage: „Was, in diesem ganz konkreten Fall, würde der Betroffene jetzt wollen?“ ist dann besonders schwer zu beantworten. Menschen mit Unterstützungsbedarf brauchen beides, Bezugspersonen, die ihnen zugetan sind, ihnen warme, verlässliche Beziehungen bieten und um ihr Wohl besorgt sind. Und sie brauchen Menschen, die ihnen zugestehen, ihre eignen Vorstellungen vom Leben zu entwickeln und umzusetzen. Wo das in einer Person nicht zu vereinen ist und wiederholt zu Konflikten führt, könnte die Lösung so aussehen: Angehörige bewahren und pflegen enge Bindungen, geben Zuwendung und Halt. Die gesetzliche Betreuung aber legen sie in die Hände einer Person, die den erforderlichen inneren Abstand wahren und die persönliche Lebensgestaltung des Betreuten zulassen kann. Wo das sinnvoll erscheint, ist auch das Splitten der Betreuung möglich. Die Gesundheitssorge beispielsweise obliegt einem Angehörigen, die anderen Aufgabenkreise einer außenstehenden Person. Für die Beziehungen innerhalb der Familie kann das durchaus eine Befreiung sein. In wirklich strittigen Fällen treten dann idealerweise alle Beteiligten, die Betroffenen selbst, Angehörige, gesetzliche Betreuer und professionelle Bezugspersonen, in Austausch miteinander und finden die passenden Lösungen. Ruth Hofmann

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