Mediathek der Stiftung Liebenau
Aufrufe
vor 3 Jahren

Stellungnahme zum Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF)

  • Text
  • Ethischen
  • Sterbeprozess
  • Ethische
  • Lebens
  • Verzicht
  • Autonomie
  • Suizid
  • Nahrung
  • Menschen
  • Fvnf

Deutlich wird, dass das

Deutlich wird, dass das Bundesverfassungsgericht bei diesem Urteil die Autonomie des Menschen sehr hoch bewertet hat, während der allgemeine Lebensschutz als nachrangiges Gut eingestuft wird. 15 Aus der Perspektive des weltanschaulich neutralen Rechtsstaates ist der Suizid also nicht zu verurteilen. Wer eine traditionell christliche Position einnimmt, kommt im normativen Spannungsverhältnis von Autonomie und Lebensschutz zu einer anderen Gewichtung: Die christliche Tradition versteht den Menschen als Geschöpf Gottes. Als solches ist er zwar Verwalter, nicht aber Eigentümer seines eigenen Lebens. In diesem Sinnhorizont kann es ein Recht des Menschen auf Selbsttötung nicht geben, weil Gott selbst es ist, der das Hoheitsrecht über das menschliche Leben verfügt: „Ich [Gott] bin es, der tötet und der lebendig macht.“ (Dtn 32,39) Jede Selbsttötung wäre eine Missachtung des Alleinverfügungsrechts Gottes über das menschliche Leben. Alle traditionellen Argumentationen gegen die Selbsttötung, vor allem auf katholischer Seite, laufen darauf hinaus, dass die sittliche Autonomie des Menschen durch die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens begrenzt ist. Vor dem Hintergrund dieses Gott-Mensch- Verhältnisses erachten beide christlichen Kirchen den Suizid als keine legitime Handlungsmöglichkeit. 16 15 In diesem Zusammenhang stellt sich die ethische Frage, ob nach dem Prinzip der Verallgemeinerung nicht alle Menschenleben die gleiche Würde besitzen und deswegen ihr Leben auch in gleicher Weise geschützt werden müsste. Vgl. Franz-Josef Bormann, Ein moraltheologischer Blick auf das sog. Sterbefasten, in: ZfmE 65 (3/2019), 268. – In der Rechtsprechung gab es auch Urteile, in denen die Achtung der Menschenwürde eine Grenze der Autonomie darstellte: Die freie Selbstbestimmung finde dort ihre Grenze, wo Menschen (sich selbst) als bloßes Objekt gebrauchen würden. Die Würde des Menschen sei ein objektiver und unverfügbarer Wert, „auf dessen Beachtung der einzelne nicht wirksam verzichten“ (BVerwG, 1 C 232.79, Rn. 12) könne. Im Anschluss an diese Rechtsauffassung kann der Gedanke, dass es ein „Recht auf [ein] selbstbestimmtes Sterben“ gebe, auch kritisch gesehen werden. 16 Neuere Positionen in der Theologischen Ethik lehnen ein Gottesbild ab, in dem Gott als ein mächtiger Herrscher vorkommt, der über das Glück und das Unglück bzw. über das Leben und den Tod von Menschen willkürlich verfügt. Hervorgehoben wird vielmehr die personale Dimension, dass der Suizid eine Absage an die Hoffnung bedeute, alles Leid im Vertrauen auf die Hilfe Gottes bestehen zu können: „Auch dort, wo das Leben aus menschlicher Sicht nicht mehr lebenswert erscheint, ist ihm sein Sinn und Wert von Gott her verbürgt.“ (Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg/Br. 22014, 588) Auch nach diesem theologischen Kon- 8

Zu Fallkonstellation 2: Im Kontext einer ethischen Beurteilung, die von einem säkularen Sinnhorizont ausgeht, ist dieser zweite Fall nicht anders zu bewerten als die erste Konstellation. Nach dem Suizidurteil des Bundesverfassungsgerichts steht es dem Menschen zu, frei über die Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden. Dabei spielt es für die rechtliche Beurteilung der Lebensbeendigung keine Rolle, ob sich eine Person in einem unumkehrbaren oder nicht in einem unumkehrbaren Sterbeprozess befindet. 17 In beiden Fällen liegt die absolute Freiheit zum Suizid beim betroffenen Menschen selbst. Der Staat greift in die Autonomie des Menschen nicht ein. Im Fall eines Suizidvorhabens erachtet es der Staat nicht als seine Pflicht, den Schutz des Lebens allgemein zu garantieren. Vor einem christlichen Sinnhorizont kommt dem Umstand, dass die Person im zweiten Fall sich in einem unumkehrbaren Sterbeprozess befindet, durchaus eine ethische Relevanz zu. Wenn der Sterbeprozess schon eingesetzt hat und nach ärztlicher Prognose unumkehrbar ist, hat die Handlung des FVNF weniger einen selbsttötenden als einen zeitlichen Charakter. Die Absicht, freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, läuft dann vornehmlich darauf hinaus, den Todeszeitpunkt vorzuverlegen. Die Hauptintention ist also, die Sterbe- und Leidensphase zu verkürzen. Der Grund für diesen Entschluss ist die Selbsteinschätzung des Sterbenden, dass sein Leiden an der schweren Krankheit so groß ist, dass die Sterbephase vorzeitig beendet werden sollte. Der ethische Wert, weiteres Leid zu vermindern, steht hier im Vordergrund. Da kein Suizid im üblichen Sinne vorliegt, ist der FVNF in diesem Fall – gerade auch im Kontext einer traditionell-christlichen Perspektive – ethisch zu billigen. 18 Dieses Urteil anzept steht es dem Menschen nicht zu, ein letztes und definitives Urteil über den Wert seiner eigenen Existenz zu treffen. Sich selbst zu töten, bedeutet eine „angemaßte Selbstrechtfertigung“ (ebd., 589) des Menschen. Die christliche Position plädiert also dafür, den Lebensschutz ethisch sehr hoch zu gewichten. 17 Vgl. BVerfG, 2 BvR 2347/15, Rn. 210. 18 So kommt auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund zu der Überzeugung, unerträgliches Leid „als relevanten Beweggrund für den Sterbewunsch“ anzuerkennen. Vgl. ders. (Hg.), Das Sterben leben. Entscheidungen am Lebensende aus evangelischer Perspektive, Uetendorf 2007, 29. – Vorsichtig in diese Richtung argumentiert auf katholischer Seite auch Eberhard Schockenhoff: Er macht darauf aufmerksam, dass die christliche Ethik den Grundsatz von der Unverfügbarkeit des Lebens nie „als ausnahmelos gültiges […] ‚absolutes‘ Prinzip“ verstanden habe. Immer seien auch Ausnahmen formuliert worden (z. B. Todesstrafe, Tötung im Krieg, Tötung aus Notwehr, Tyran- 9

Hier finden Sie Impulse für den Alltag

Anstifter