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Autonomie Stärken

3 Anregungen für die

3 Anregungen für die Praxis Auf dem Hintergrund der Klärungen dessen, was Autonomie überhaupt und für Menschen mit Einschränkungen heißen kann, und unter dem Eindruck einiger Falldarstellungen, die die Entscheidung in schwierigen Situationen zugunsten von möglichst viel Autonomie in den Mittelpunkt stellen, geht es nun um Anregungen für eine autonomiestärkende Praxis in den Einrichtungen der Stiftung Liebenau. Sie sind an die Klienten, Mitarbeiter und die Stiftung Liebenau mit ihren Einrichtungen und Diensten adressiert. Sie sollen dazu dienen, konkrete Hinweise für eine professionelle und institutionell eingebundene Praxis zu geben, die das Stärken der Autonomie der Klienten zum Ziel hat. Am Schluss stehen Stichworte und damit verbundene Fragen, die allen Betroffenen als Prüfkriterien hierfür dienen sollen. 3.1 Den Rechtsanspruch der Betroffenen anerkennen Das Recht auf Achtung der Autonomie lässt sich für das alltägliche Handeln von Betreuern nach Monika Bobbert konkretisieren in fünf Elementen, die damit zusammenhängende Rechtsansprüche beinhalten. (1 ) Recht auf Festlegung des Eigenwohls Jedem Betreuten muss zugestanden werden, für sich selbst festzulegen, worin seine Vorstellung vom „guten Leben“ besteht. Er muss äußern dürfen, was ihm gut tut, und davon ausgehen dürfen, dass Andere seinen Wünschen und Zielen Rechnung tragen und er – soweit möglich – nach seinen eigenen Vorstellungen sein Leben gestalten kann. (2) Recht auf Information Keinem Betreuten dürfen die Informationen, etwa über seinen gesundheitlichen Zustand, die er für eine Entscheidung braucht, vorenthalten werden. Dazu gehören insbesondere Informationen über die Vor- und Nachteile einer Behandlung, die ihm vorgeschlagen wird. (3) Recht auf möglichst geringe Einschränkung des Handlungsspielraums Der individuelle Freiheitsraum eines Betreuten darf so wenig wie möglich durch so genannte „institutionelle Sachzwänge“ eingeschränkt werden. In den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Pflege liegt hier für die Mitarbeiter - sowohl für die auf der Leitungsebene wie für die auf der Ebene der konkreten medizinischen und pflegerischen Versorgung – eine große Herausforderung, die Praxis der Vergangenheit aufzuarbeiten und Handlungsleitlinien zu erarbeiten, die ein möglichst selbstbestimmtes Leben in den Einrichtungen ermöglichen. (4) Recht auf Zustimmung zu oder Ablehnung von Handlungen Dritter Jeder Betreute muss als Subjekt betrachtet werden, dem ein möglichst großes Maß an Mitsprache eingeräumt wird, vor allem bei Entscheidungen, die etwa die Gesundheitsvorsorge oder die Pflege betreffen. Er darf nicht als Objekt behandelt werden, an dem Entscheidungen der Pflegeleitung und des Pflegepersonals „vollzogen“ werden. Das gilt in besonderem Maß dort, wo durch solche Handlungen intime leibliche oder seelische Belange des Betreuten berührt werden. (5) Recht auf die Wahl zwischen möglichen Alternativen Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das unter (2) und (4) schon angesprochen wurde, soll in der Weise konkretisiert werden, dass dem Betreuten die Wahl zwischen Alternativen eröffnet wird. Das Fachpersonal darf beraten, soll aber möglichst wenige Vorentscheidungen treffen. Damit vergrößert sich – so die in den letzten Jahren gewonnene Einsicht – die Chance, dass der Betreute seine individuellen Präferenzen verfolgen kann. 5.2 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kompetent machen (1) Mit asymmetrischen Beziehungen bewusst umgehen Da es beim Recht auf Autonomie nicht nur um ein bloßes Abwehrrecht geht, son- 60 61

dern auch darum, eine Willensbildung zu ermöglichen über Sachverhalte, die den Betreuten zum großen Teil fremd sind, muss die Asymmetrie zwischen Betreuten und Helfern soweit wie möglich verringert werden. Monika Bobbert spricht von „vier großen Asymmetrien“, die die Situation im Krankenhaus kennzeichnen, die aber unseres Erachtens wohl ebenso für den Pflege- und Betreuungsbereich gelten: 1. Die professionellen Helfer haben einen fachlichen Wissensvorsprung gegenüber den Betreuten 2. Sie bewegen sich innerhalb der Institution in einer ihnen vertrauten Rolle, die ihnen Sicherheit gibt 3. Sie leiden im Unterschied zu denen, die sie betreuen, nicht unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen 4. Sie stehen nicht in Abhängigkeit von den Betreuten und unterliegen damit nicht dem Druck, deren Erwartungen zu entsprechen. Um die Autonomie der betreuten Menschen zu fördern, ist es notwendig, diese Asymmetrien abzubauen bzw. dort, wo sie nicht verringert werden können, zumindest bewusst mit ihnen umzugehen. (2) Ethische Urteilskompetenz gewinnen Die Fallbeispiele haben gezeigt, dass in oft schwierigen Situationen Entscheidungen getroffen werden mussten. Das verlangt von den Betreuerinnen die Fähigkeit einer sorgfältigen Wahrnehmung und Beobachtung sowohl der Klienten als auch der eigenen Verhaltensweisen im Konfliktfall. Notwendig ist auch die Kompetenz zur Analyse der Zusammenhänge, in denen Autonomie gefährdet ist bzw. gefördert werden kann. Ebenso wichtig ist die Orientierung der Mitarbeiter an Leitwerten, die dem Professionsethos und dem Leitbild der Betreuungsorganisation entsprechen. Erforderlich ist die Fähigkeit, in Verhaltensalternativen angesichts von Autonomiewünschen zu denken. Zudem ist es bei dilemmatischen Situationen notwendig, dass Entscheidungen klar, transparent und nachvollziehbar begründet werden. Zur Professionalität ethischer Urteilskompetenz zählt schließlich die Überprüfung der gefällten Entscheidung und deren eventuelle Revision oder Abänderung, wenn das Ziel einer gestärkten Autonomie nicht (mehr) erreichbar scheint. (3) In Beratung mit dem Betroffenen und seinem Umfeld entscheiden In allen Fallbeispielen ist auch deutlich geworden, dass es keine einsamen Entscheidungen von professionellen Helfern über die Autonomiechancen der Betroffenen geben darf. Entscheidungen in brisanten Situationen bedürfen der Einbeziehung des Betroffenen oder eines Stellvertreters, der die (mutmaßlichen) Anliegen des nicht (mehr) entscheidungsfähigen Betreuten vertritt. Bewährt hat sich auch das Prinzip der Interdisziplinarität, weil verschiedene Fachperspektiven den Fall in seiner Vielschichtigkeit offen legen und die Kreativität in der Lösungsfindung befördern. Das hat zwar den Nachteil einer zeitlichen Verzögerung in der Entscheidungsfindung, macht aber gemeinsam gefundene Lösungen tragfähiger. Je nach Situation ist es auch hilfreich, wenn das verwandtschaftliche und soziale Umfeld in die Entscheidungsbildung integriert wird. Auch dieser Schritt kann „lästig“ sein, birgt aber den Vorteil, dass die Ressourcen des Umfelds in die Lösungssuche produktiv eingebracht werden können. (4) Mit der „zweitbesten Lösung“ leben lernen In den Fallbeispielen wurde erkennbar, dass selten „glatte“ und ideale Lösungen gefunden werden konnten. Immer musste zwischen den verschiedenen Ansprüchen ein tragfähiger Kompromiss gefunden werden. In der Regel kann sich bei der Auflösung von dilemmatischen Situationen nicht eine Seite allein durchsetzen. Es bedarf also auch des Mutes, zu so genannten „zweitbesten Lösungen“ zu stehen. Oft ist eine „möglichst gute“, aber praktikable Lösung besser als die optimale, die sich in der Praxis als nicht realisierbar erweist. 62 63

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