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Autonomie Stärken

Suchtstation des ZfP

Suchtstation des ZfP fragten erneut nach einem Heimplatz im stationären Bereich, da weder die Krankenkasse noch der Rentenversicherungsträger bereit waren, eine längerfristige Entziehung zu finanzieren. Mittlerweile wohnt Herr A. – nach zwei Aufenthalten im ZfP – wieder in der ursprünglichen stationären Wohngruppe. Grundlage für das Zusammenleben bildet die „Alkoholvereinbarung“. Entscheidung: Es wurde entschieden, Herrn A. wieder auf einer stationären Gruppe aufzunehmen. Bedingung für den Einzug ist eine so genannte Alkoholvereinbarung. Diese ist mit ihm exakt durchgesprochen und regelt detailliert die Rechte und Pflichten, sowohl seine eigenen als auch die der Wohngruppe. Dilemma: Herr A. tut sich schwer mit der Einschätzung seiner Behinderung, seiner Defizite und seines Alkoholproblems, aber auch mit einer realistischen Wahrnehmung seiner eigenen Wünsche nach mehr Selbstständigkeit. Paradox ist in seinem Fall, dass er bezogen auf lebenspraktische Fähigkeiten und seine individuelle Motivation durchaus mehr Freiheiten haben könnte. Da er diese Spielräume nur eingeschränkt für sich nutzen kann, leidet er oft unter Spannungen und ist unzufrieden, was in der Folge zu Konflikten führt. Seine chronische Alkoholproblematik mit jahrelanger Erfahrung in Institutionen bringt es mit sich, dass er stets die Grenzen der Mitarbeiter „austestet“, kommunikative Schwächen im Team aufspürt und für seine Zwecke und Interessen zu nutzen sucht. Dies führt zusätzlich zu Ambivalenzen im Team. Für die Mitarbeiter erfordert es einen sehr hohen Einsatz, ständig den Spielraum auszuloten zwischen einem Eingreifen in die persönliche Autonomie einerseits und der Ermöglichung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung andererseits. Um die Situation zu normalisieren, muss das Team aufmerksam die Äußerungen und Verhaltensweisen von Herrn A. verfolgen und abwägen. Um die übrigen Bewohner zu schützen, müssen die Mitarbeiter deutliche Grenzen setzen. Andererseits wollen sie eine empathische, fördernde und Freiräume schaffende Atmosphäre bieten. Der paradigmatische Anspruch in der Behindertenhilfe nach Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit, Normalisierung, Assistenz und Kundenorientierung stellt eine hohe Anforderung an die Arbeitsweise der Mitarbeiter. Begründung: Nur so sah das Team eine Chance, bei einem abermaligen exzessiven Rückfall legitimierte Handlungsmöglichkeiten bis hin zu Sanktionen zu haben. Dazu gehören etwa die Zimmerkontrolle und die Wegnahme von alkoholischen Getränken, der Verzicht auf den Kontakt zur Mutter, die sein Suchtverhalten fördert, oder ein Supermarktverbot. Mit Hilfe der Vereinbarung weiß Herr A., worauf er sich „eingelassen“ hat. Mitarbeiter reglementieren ihn nach Einschätzung der Situation, um ein Zusammenleben in der Gruppe zu ermöglichen. Vom Team erfordert dies einen Spagat, da die anderen Mitbewohner diese Reglementierung nicht brauchen. Herr A. muss sich explizit an Vereinbarungen halten. Zusätzlich holten sich die Mitarbeiter qualifizierte Hilfe in Form einer Teamberatung durch einen professionellen Suchtberater der regionalen Psychosozialen Beratungsstelle der ökumenischen Diakonie. So sollen die Mitarbeiter Verhaltensweisen oder Anzeichen für einen steigenden Suchtdruck besser erkennen, um rechtzeitig reagieren zu können. Außerdem erhalten sie Hilfe dabei, leichter eine professionelle Distanz in dem Beziehungsverhältnis aufbauen zu können. 44 45

(7) Herr B. lernt Hilfsmaßnahmen anzunehmen Ausgangssituation: Der 42-jährige Herr B. mit einem unauffälligen Erscheinungsbild hat eine leichte geistige Behinderung. Diese wird begleitet von unberechenbaren pathologischen Erregungszuständen. Herr B. zeigt dissoziale Verhaltensstörungen, die ohne erkennbaren Anlass stattfinden und als unangemessene Zielerreichungs- oder Problemlösungsstrategien dienen. Anamnetisch bekannt sind kleine Diebereien und sexuelle Verhaltensauffälligkeiten. Die Familienangehörigen sind in dieser Lage verständlicherweise überfordert. Es kommt mehrfach zu stationären psychiatrischen Kriseninterventionen. Mehrere Versuche, eine dem individuellen Hilfebedarf des Behinderten angemessene Heimbetreuungsstruktur zu schaffen, sind gescheitert. Im Kontext einer Krisenintervention kommt Herr B. zur stationären Aufnahme in die St. Lukas-Klinik. Die abgebende Einrichtung hat zwischenzeitlich den Heimvertrag aufgekündigt; er sprenge ihre Betreuungsmöglichkeiten. Herr B. ist bezogen auf Alltagsfertigkeiten recht selbständig, ist wortgewandt und mit erstaunlicher praktischer Intelligenz ausgestattet. Dennoch braucht er eine fürsorgliche Hilfsstruktur. Dies verkennt er aufgrund eines irrealen Selbstbildes. In seinen Plänen, Wünschen und Erwartungen ist er maßlos, expansiv und dreist fordernd – ohne Rücksicht auf den sozialen Kontext. Er beherrscht effiziente Druck- und Erpressungsstrategien und andere teilweise dissoziale Zielerreichungsmuster. Bisherige polizeiliche Kontakte versandeten, da von Seiten der Staatsanwaltschaft jeweils mit Verweis auf die Behinderung von strafrechtlichen Verfahren abgesehen wurde. Herr B. erlebt sich in keiner Weise als behindert, leistungseingeschränkt oder gar krank – entsprechend problematisch war im stationären Rahmen die Kooperation mit ihm. Der gesetzliche Betreuer (sein Bruder) sah anfangs keine Indikation für psychiatrische und medizinische Hilfen. Er verweigerte zunächst auch eine stringente pädagogische Struktur, die Freiheitseinschränkungen implizierte. Die Eltern – und nach deren Tod auch der Bruder – hatten für Herrn B. stets eine „Verwöhn-Atmosphäre“ geschaffen und sind den absehbaren Konflikten, die eine Grenzsetzung hervorgerufen hätte, „um des lieben Friedens willen“ stets aus dem Weg gegangen. Weil Herr B. im Gespräch mit dem Vormundschaftsrichter sich eloquent von seiner angenehmsten Seite her präsentieren konnte und da auch eine Selbstgefährdung im engeren Sinne sich nicht aufdrängte, wurden freiheitseinschränkende Maßnahmen, also die Erlaubnis, den Handlungsspielraum von Herrn B. gegebenenfalls einzugrenzen, als nicht gerechtfertigt beurteilt. Dilemma: Der geistig behinderte Herr B. ist „krankheitsuneinsichtig“. Er hat aufgrund seiner geistigen Behinderung und einer unverkennbaren Persönlichkeitsstörung ein irreales Selbstbild. Er erkennt für sich keinen Therapie- oder sonstigen Hilfebedarf. Eine Entlassung in die vorherige Behinderteneinrichtung ist nicht möglich. (Der Heimvertrag wurde gekündigt, Herr B. hat bereits eine Odyssee in der Behindertenhilfe hinter sich.) Eine Entlassung nach Hause ist ebenfalls ausgeschlossen, weil die Eltern gestorben sind, der Bruder erwiesenermaßen überfordert ist und sich verweigert. Von amtlicher Seite werden heilpädagogisch-sozialtherapeutische Hilfemaßnahmen, die u. U. Freiheitseinschränkungen implizieren, als nicht gerechtfertigt erachtet. Faktisch besteht aber Therapie- und spezieller Hilfebedarf. Entscheidung: Die St. Lukas-Klinik entschied sich, für Herrn B. ein Reihe spezifisch heilpädagogischer und sozialtherapeutischer stationärer Hilfemaßnahmen zu schaffen, wohl wissend, dass, was immer an pragmatischer Hilfe angeboten wird, Kritik zur Folge haben kann. Andererseits wollte die Klinik Herrn B. nicht aufgeben, ihm vielmehr eine Zukunft öffnen, in der er sich sozial angenommen und integriert fühlen kann. Sie empfand ein Dilemma zwischen den gängigen Handlungsbegründungen für ärztlich-therapeutisches wie pädagogisch-assistierendes Handeln und der aktuellen praktischen Handlungsnotwendigkeit. 46 47

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