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Auf Kurs 02/2019

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Meine Geschichte –

Meine Geschichte – mein Ritual Da ist noch jemand Rituale geben dem Alltag Struktur, schaffen einen Übergang zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Tag und Nacht und zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Für unsere Serie haben wir Sibylle Porske gefragt. Sie ist Konrektorin und Religionslehrerin an der Ulmer Max-Gutknecht-Schule, in der eine ganze Reihe an christlichen und spirituellen Ritualen gepflegt wird. Es ist Montagmorgen. Sibylle Porske kommt gerade aus dem „Raum der Stille“ in der „Schillerstraße 15“, der Heimat von Max-Gutknecht-Schule (MGS) und Regionalem Ausbildungszentrum (RAZ) in Ulm. Ihre Klasse ist dort mit einem Morgenkreis in eine neue Woche gestartet. Porske und die anderen Lehrkräfte nutzen diesen Raum gerne für schulische Angebote. Gerade mit Blick auf den Religionsunterricht finde man hier „einfach eine ganz andere Atmosphäre“ vor als im normalen Klassenzimmer. Die Jugendlichen erzählen in dieser Umgebung leichter, was ihnen auf der Seele liegt – und können sicher sein, dass es vertraulich bleibt. „Das, was dort gesprochen wird, dringt nicht nach draußen“, so die Vereinbarung. Alle sind mit dabei Religion und Rituale – das gehört zusammen. Auch in der „Schillerstraße 15“ spiegeln sich die Stationen des christlichen Kirchenjahres wider – seien es verschiedene Aktionen in der Fastenzeit oder im Advent die gemeinsam von RAZ und MGS gestalteten Impulse, die den Weg vom Dunkel ins Licht symbolisieren sollen. Dementsprechend findet der Auftakt dieser mehrteiligen Veranstaltung auch im Keller statt, ehe man sich im Gebäude Schritt für Schritt nach oben arbeitet, um dann in der lichtdurchfluteten Aula im Obergeschoss die große Weihnachtsfeier zu begehen. Auch hier gilt: die christlich-katholische Prägung der Einrichtungen wird zelebriert, dabei aber bei der Gestaltung Rücksicht genommen auf andersgläubige Jugendliche. Und so sind tatsächlich alle gerne mit dabei, auch die muslimischen Schülerinnen und Schüler, was für Sibylle Porske immer wieder eine „sehr schöne Sache“ ist. „Ich bin hier richtig“ Auch sonst gibt es im Haus das ganze Schuljahr über weitere Rituale mit religiösem oder besinnlichem Charakter. So spricht Porske oder eine andere Mitarbeiterin bei den Aufnahme- und Absolventenfeiern jeweils einen Segensgruß. Und innerhalb des Kollegiums spielen Rituale ebenfalls eine Rolle: So werden die Gesamtlehrerkonferenzen immer mit einem spirituellen Impuls eröffnet. Was Sibylle Porske ganz persönlich für sich aus christlichen Ritualen schöpft? „Dass da noch jemand da ist, der uns im Alltag hilft.“ Und genau dieses Gefühl, nicht allein zu sein, wolle die Max-Gutknecht-Schule auch ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln. Das Gefühl, als Mensch wertgeschätzt zu werden – und zwar so, wie man ist. Ohne, dass man erst etwas beweisen muss. Und dass jeder Teilnehmende erfahre: „Ich bin da, und hier bin ich auch richtig.“ So, wie die Schulwoche begonnen hat, endet sie dann für Sibylle Porske auch: im „Raum der Stille“. Dort versammelt sich um sie jeden Freitag eine freiwillige Gruppe aus Berufsschülern mit besonderem Teilhabebedarf sowie aus Teilnehmenden mit schwereren Beeinträchtigungen aus der KoBV-Maßnahme. Eine Mischung, die passt: „Die Jugendlichen tun einander gut“, beobachtet die stellvertretende Schulleiterin. Mal findet in diesem Rahmen ein Austausch über bestimmte Themen statt, mal möchten die jungen Frauen und Männer auch „einfach nur für ein paar Minuten still sein“. Die besondere Stimmung in diesem Kreis, in dem sich die jungen Leute öffnen – „die genieße ich ganz besonders“, freut sich Sibylle Porske jedes Mal aufs Neue. (ck) 18 2|2019

Schillerstraße 15 Ulm „Hattest Du Angst zu sterben?“ Neun Jugendliche aus dem Regionalen Ausbildungszentrum (RAZ) Ulm haben sich anlässlich der Aktion „Arbeit für den Frieden“ bei der Pflege von Kriegsgräbern im Elsass engagiert – und danach sehr emotionale Briefe an die im Ersten oder Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten geschrieben. Vier Tage lang waren die jungen Menschen in Straßburg im Einsatz, um sich dort um die Instandhaltung der Gedenkstätten zu kümmern. Das Schicksal der getöteten Soldaten ließ sie auch nach getaner Arbeit nicht los. Um sich mit den Erlebnissen auseinanderzusetzen, sollte jeder Teilnehmende einen persönlichen Brief an einen der Gefallenen verfassen. Welche Geschichte verbirgt sich hinter dem Namen auf dem Grabstein? Was für ein Mensch war er? Hatte er Familie? Wer trauerte um ihn? Die Jugendlichen schrieben sich all ihre Gedanken und Fragen von der Seele. Heraus kamen Zeilen, die ihre Begleitpersonen „fast zu Tränen“ rührten. Ergreifende, emotionale Worte „Eine richtige Gänsehaut“ habe sie bekommen beim Lesen der Briefe, sagt RAZ-Ausbilderin Constanze Schock- Beck, die zusammen mit ihrem Kollegen Abdurrahman Akgün und dem FSJ-Praktikanten Niko Henke mit auf Frankreichfahrt gegangen war. „Die Worte an die Gefallenen sind äußerst ergreifend und Neugierig geworden? Alle Briefe können Sie im Internet lesen unter: www.stiftungliebenau.de/briefe-an-soldaten gefühlvoll, aber auch kritisch.“ Überaus ernsthaft und reflektiert seien die Jugendlichen mit dem Thema Krieg umgegangen. Und in der Stille und der besonderen Atmosphäre der Gedenkstätte war die eigentlich schon so lange zurückliegende Vergangenheit plötzlich ganz nah dran am Leben der jungen Menschen. „Krieg ist scheiße“ „Lieber Karl, ich finde es traurig, dass Du im Krieg gestorben bist“, schreibt zum Beispiel eine Schülerin an einen im März 1915 gefallenen Soldaten: „Bestimmt hattest Du eine Familie. Deine Söhne hätten bestimmt gerne mit Dir Fußball gespielt… Und Deine Töchter hätten bestimmt eine starke Schulter in wichtigen Zeiten gebraucht… Aber so fehlte ihnen der Vater, der Ehemann, der Sohn, der Bruder für immer… und warum?“ Diese Sinnlosigkeit des Krieges, sie beschäftigte auch andere. „Hallo Rudolf, ich möchte von Dir lernen und ich habe von Dir gelernt. Nämlich dass Krieg scheiße ist“, heißt es in einem weiteren Brief. Ein Jugendlicher hätte von einem Offizier gerne erfahren, warum er unschuldige Menschen auf das Schlachtfeld schickte, ob er glücklich war in seinem Beruf. Und: „Hattest Du Angst zu sterben?“ „Das macht mich traurig…“ Eine der Schülerinnen musste an ein ebenfalls viel zu früh verstorbenes Familienmitglied denken, als sie vor einem Grabstein mit demselben Namen stand: „Du erinnerst mich sehr stark an meinen Cousin, der hieß genauso wie Du“, schreibt sie. „Das macht mich traurig…“ Und der Brief an einen 1944 mit 21 Jahren gefallenen Obergefreiten endet mit dem Satz: „Wenn Sie nicht im Krieg gekämpft hätten, hätten Sie bestimmt ein schönes langes Leben gehabt.“ (ck) 2|2019 19

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