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Auf Kurs 01/2020

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150 Jahre Stiftung

150 Jahre Stiftung Liebenau Fünf Geschichten aus 150 Jahren Menschen mit besonderem Teilhabebedarf eine optimale berufliche Perspektive zu ermöglichen – diese Aufgabe hat eine lange Tradition in der Stiftung Liebenau. Und doch waren die Chancen für die Betroffenen nicht immer so gut wie heute. Das zeigen die Bildungsgeschichten von fünf Menschen aus fünf Generationen, die in der Stiftung und deren Berufsbildungswerk zu ganz unterschiedlichen Zeiten beschult und ausgebildet wurden. Und so mancher von ihnen hätte sich die Gnade einer späteren Geburt gewünscht… Der junge Oberschwabe – wir nennen ihn Georg – ist vermutlich Autist. Doch für diese Störung gibt es zu der Zeit weder einen Namen, noch eine Diagnose. Zusammen mit anderen jungen Menschen mit Behinderungen lebt er in dem 1906 im Neubau des „Gut-Betha-Hauses“ in Liebenau eingerichteten Kinderheim, in dem es auch Schulräume gibt. Inspektor Otto Weber, der damalige Liebenauer Anstaltsleiter, beschreibt die pädagogische Arbeit dort als das, was man als erstes Bildungskonzept der Stiftung bezeichnen könnte: „Wir möchten den Kindern, deren geistige Entwicklung gehemmt ist, oder die infolge körperlicher Leiden dem Klassenunterricht der Normalschule nicht zu folgen vermögen, zu einer ihrem Zustande angepassten Erziehung verhelfen und sie dadurch zu einem menschenwürdigen Dasein befähigen.“ Was aus Georg wohl geworden wäre, hätte er einhundert Jahre später Geburtstag gehabt? 1906 Der lernbehinderte Erich kommt als Zwölfjähriger im Frühjahr 1935 ins Landerziehungsheim der Stiftung Liebenau nach Rosenharz – in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten im Deutschen Reich die Macht übernommen haben. Der unmenschlichen NS-Herrschaft fallen auch Bewohner aus Rosenharz zum Opfer. Erich ist Augenzeuge, als die ersten Menschen von dort abtransportiert werden. Mehr als 50 Jahre nach diesem schrecklichen Erlebnis schildert er seine Beobachtungen einmal in eigenen Worten: „Alle mussten in der Pforte warten, und dann sind sie in den Hof gegangen. Dann haben sie sie in die Busse geschuckt, mit Stempel drauf, wie ein Stück Vieh. Als die Wägen zum zweiten Mal kamen, durfte keiner mehr im Hof sein, wir sollten das nicht sehen. Ich habe mich im Heustock versteckt und zugeschaut.“ Weil er arbeitsfähig ist, bleibt Erich selbst verschont. Wochen später erfährt er aber vom Tod seines Vaters, der in Liebenau gelebt hat und Anfang Juli 1940 deportiert worden ist. 1940 6 1|2020

150 Jahre Stiftung Liebenau aus 150 Jahren Frank wächst in seiner Heimat auf der Ostalb in schwierigen Familienverhältnissen auf. Neun Jahre besucht er die Sonderschule für Lernbehinderte. Und was nun? Auf Vorschlag des Arbeitsamtes kommt er 1984 in das noch junge Berufsbildungswerk nach Ravensburg. Im Förderlehrgang zeigt sich: der eigentlich anvisierte Gärtnerberuf ist nichts für Frank, stattdessen beginnt er eine Ausbildung als Maler und Lackierer und zeigt dort beste Leistungen. Den angebotenen Wechsel in die Regelausbildung traut sich der junge Mann aber noch nicht so richtig zu: „Lieber eine bestandene Fachwerker-Prüfung als eine nicht bestandene Vollausbildungs-Prüfung“, lautet sein Motto. Nach dem Abschluss findet er in seiner Heimat einen Job. Sein Chef legt ihm einen Meisterkurs nahe. Doch dafür fehlt der Gesellenbrief. Mit Hilfe eines Lehrers aus dem BBW büffelt er für diese nachträgliche Prüfung, die er dann tatsächlich mit sehr guten Noten im Frühjahr 1993 absolviert. 1984 Ob berufliche Wiedereinsteiger, Umschüler oder Menschen mit Migrationshintergrund: Längst hat sich das BBW gegenüber neuen Zielgruppen geöffnet und bietet auch für Erwachsene über 25 und ohne Behinderungen die Chance auf neue berufliche Perspektiven. So absolviert die 35-jährige Ex-Gymnasiastin Serpil Reitenbach im Berufsbildungswerk eine betriebliche Nachqualifizierung zur Kauffrau für Bürokommunikation. „Ich wollte schon immer im Büro arbeiten. Sachen organisieren, Kundengespräche führen, mit dem Computer umgehen.“ Sie sei eben ganz der „Organisationstyp“, meint sie seinerzeit gegenüber der „Auf Kurs“. Die Karriere auf Umwegen gelingt: Serpil Reitenbach bleibt nach ihrem Abschluss sogar im BBW und findet dort als Assistentin der Abteilungsleitung Bildung und Arbeit ihren Traumjob. 2013 Inzwischen ist Autismus längst bekannt, und immer mehr junge Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung kommen ins BBW, um dort in einem für sie geeigneten Umfeld und mit der nötigen Unterstützung den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Doch noch immer erhalten viele Betroffene ihre Diagnose erst spät, wie etwa Jan. „Man scheitert, aber man weiß nicht warum“, berichtet er über seinen langen Leidensweg, bis er mit der Diagnose Autismus „endlich einen Namen für alles“ bekommen hat – und im BBW in Ravensburg einen Ausbildungsplatz als Fachinformatiker, an dem er sich wohl und verstanden fühlt. (ck) 2020 1|2020 7

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